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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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Wahrgenommnes zu seyn scheint. Sie bindet
sich an keine ängstliche Ordnung, und läßt die
Gegenstände nicht, wie sie sind oder waren; son-
dern läßt aus, oder macht Zusätze, wie es ihr
gerade am besten gefällt. Das Gedächtniß wie-
derhohlt die Empfindungen, oder die von ihnen
in der Seele zurückgebliebnen Spuren in derselben
Form und Ordnung, in welcher man sie gehabt
hat; die Einbildungskraft trennt oder setzt sie zu-
sammen*). Plato vergleicht daher, wie mich
dünkt, sehr gut jene Kraft mit einem Schreiber,
welcher, so wie es ihm vorgesagt wird, nach-
schreibt: diese mit einem Mahler, welcher
sich seine Pinselstriche nicht, so wie jener, vor-
schreiben läßt.

Wenn mich mein Freund um den mir be-
kannten Weg nach einer Stadt fragt, so schreib
ich ihm aus dem Gedächtniß nach der Reihe die
Oerter auf, zu welchen ihn seine Straße führt;
aber, wenn er sich erkundigt, ob es, und was mir
auf der Reise dahin gefallen habe, schildre ich ihm,
ohne mich an eine feste Ordnung zu binden, die
Gegenstände meines Wohlgefallens, wie sie mir
meine Einbildungskraft vorhält.

Jn dem Tagebuch der großen Ueberschwem-
mungen von den Jahren 1770 und 1771 sind die

Be-
*) Garvens vermischte Abhandlungen, S. 28.

Wahrgenommnes zu ſeyn ſcheint. Sie bindet
ſich an keine aͤngſtliche Ordnung, und laͤßt die
Gegenſtaͤnde nicht, wie ſie ſind oder waren; ſon-
dern laͤßt aus, oder macht Zuſaͤtze, wie es ihr
gerade am beſten gefaͤllt. Das Gedaͤchtniß wie-
derhohlt die Empfindungen, oder die von ihnen
in der Seele zuruͤckgebliebnen Spuren in derſelben
Form und Ordnung, in welcher man ſie gehabt
hat; die Einbildungskraft trennt oder ſetzt ſie zu-
ſammen*). Plato vergleicht daher, wie mich
duͤnkt, ſehr gut jene Kraft mit einem Schreiber,
welcher, ſo wie es ihm vorgeſagt wird, nach-
ſchreibt: dieſe mit einem Mahler, welcher
ſich ſeine Pinſelſtriche nicht, ſo wie jener, vor-
ſchreiben laͤßt.

Wenn mich mein Freund um den mir be-
kannten Weg nach einer Stadt fragt, ſo ſchreib
ich ihm aus dem Gedaͤchtniß nach der Reihe die
Oerter auf, zu welchen ihn ſeine Straße fuͤhrt;
aber, wenn er ſich erkundigt, ob es, und was mir
auf der Reiſe dahin gefallen habe, ſchildre ich ihm,
ohne mich an eine feſte Ordnung zu binden, die
Gegenſtaͤnde meines Wohlgefallens, wie ſie mir
meine Einbildungskraft vorhaͤlt.

Jn dem Tagebuch der großen Ueberſchwem-
mungen von den Jahren 1770 und 1771 ſind die

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*) Garvens vermiſchte Abhandlungen, S. 28.
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[123/0147] Wahrgenommnes zu ſeyn ſcheint. Sie bindet ſich an keine aͤngſtliche Ordnung, und laͤßt die Gegenſtaͤnde nicht, wie ſie ſind oder waren; ſon- dern laͤßt aus, oder macht Zuſaͤtze, wie es ihr gerade am beſten gefaͤllt. Das Gedaͤchtniß wie- derhohlt die Empfindungen, oder die von ihnen in der Seele zuruͤckgebliebnen Spuren in derſelben Form und Ordnung, in welcher man ſie gehabt hat; die Einbildungskraft trennt oder ſetzt ſie zu- ſammen *). Plato vergleicht daher, wie mich duͤnkt, ſehr gut jene Kraft mit einem Schreiber, welcher, ſo wie es ihm vorgeſagt wird, nach- ſchreibt: dieſe mit einem Mahler, welcher ſich ſeine Pinſelſtriche nicht, ſo wie jener, vor- ſchreiben laͤßt. Wenn mich mein Freund um den mir be- kannten Weg nach einer Stadt fragt, ſo ſchreib ich ihm aus dem Gedaͤchtniß nach der Reihe die Oerter auf, zu welchen ihn ſeine Straße fuͤhrt; aber, wenn er ſich erkundigt, ob es, und was mir auf der Reiſe dahin gefallen habe, ſchildre ich ihm, ohne mich an eine feſte Ordnung zu binden, die Gegenſtaͤnde meines Wohlgefallens, wie ſie mir meine Einbildungskraft vorhaͤlt. Jn dem Tagebuch der großen Ueberſchwem- mungen von den Jahren 1770 und 1771 ſind die Be- *) Garvens vermiſchte Abhandlungen, S. 28.

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/147>, abgerufen am 25.04.2024.