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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.
diesen Pflasterstein hier färbt, und sich mit
Erdenstaub vermischet, fiel unversehens von
diesem hohen Thurm herab: und wie uns
auf einmal so ganz anders werden würde,
wenn man uns sagte: Der Jüngling stieg
in der Absicht auf den Thurm, um sich
herabzustürzen, und stürzte sich aus Vor-
satz herab.
Im ersten Falle wären wir
Schmerz, Mitleid, im zweyten verlören wir
uns selbst im Angriff der ungewohntesten
Gefühle.

Auch ist es sonderbar, daß bey der
ersten Nachricht von dem Selbstmorde einer
gekannten, merkwürdigen Person der Land-
mann wie der Hofmann, die Viehmagd
wie der Schulgelehrte, der Verwandte wie
der Fremdling, der Greis wie der Knabe,
der tapfere Krieger wie das weichherzige
Mädchen etc. in eine neue Welt von Empfin-
dungen hineingeworfen werden -- Voraus-
gesetzt, daß die Hörer dieser Nachricht noch
nicht um alle Menschenempfindung gekom-
men, oder nicht eben in der unglücklichen
Arbeit begriffen sind, sich ein System der
Selbstentleibung zu bauen, oder ein vol-

lendetes

Erſter Abſchnitt.
dieſen Pflaſterſtein hier faͤrbt, und ſich mit
Erdenſtaub vermiſchet, fiel unverſehens von
dieſem hohen Thurm herab: und wie uns
auf einmal ſo ganz anders werden wuͤrde,
wenn man uns ſagte: Der Juͤngling ſtieg
in der Abſicht auf den Thurm, um ſich
herabzuſtuͤrzen, und ſtuͤrzte ſich aus Vor-
ſatz herab.
Im erſten Falle waͤren wir
Schmerz, Mitleid, im zweyten verloͤren wir
uns ſelbſt im Angriff der ungewohnteſten
Gefuͤhle.

Auch iſt es ſonderbar, daß bey der
erſten Nachricht von dem Selbſtmorde einer
gekannten, merkwuͤrdigen Perſon der Land-
mann wie der Hofmann, die Viehmagd
wie der Schulgelehrte, der Verwandte wie
der Fremdling, der Greis wie der Knabe,
der tapfere Krieger wie das weichherzige
Maͤdchen ꝛc. in eine neue Welt von Empfin-
dungen hineingeworfen werden — Voraus-
geſetzt, daß die Hoͤrer dieſer Nachricht noch
nicht um alle Menſchenempfindung gekom-
men, oder nicht eben in der ungluͤcklichen
Arbeit begriffen ſind, ſich ein Syſtem der
Selbſtentleibung zu bauen, oder ein vol-

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[12/0024] Erſter Abſchnitt. dieſen Pflaſterſtein hier faͤrbt, und ſich mit Erdenſtaub vermiſchet, fiel unverſehens von dieſem hohen Thurm herab: und wie uns auf einmal ſo ganz anders werden wuͤrde, wenn man uns ſagte: Der Juͤngling ſtieg in der Abſicht auf den Thurm, um ſich herabzuſtuͤrzen, und ſtuͤrzte ſich aus Vor- ſatz herab. Im erſten Falle waͤren wir Schmerz, Mitleid, im zweyten verloͤren wir uns ſelbſt im Angriff der ungewohnteſten Gefuͤhle. Auch iſt es ſonderbar, daß bey der erſten Nachricht von dem Selbſtmorde einer gekannten, merkwuͤrdigen Perſon der Land- mann wie der Hofmann, die Viehmagd wie der Schulgelehrte, der Verwandte wie der Fremdling, der Greis wie der Knabe, der tapfere Krieger wie das weichherzige Maͤdchen ꝛc. in eine neue Welt von Empfin- dungen hineingeworfen werden — Voraus- geſetzt, daß die Hoͤrer dieſer Nachricht noch nicht um alle Menſchenempfindung gekom- men, oder nicht eben in der ungluͤcklichen Arbeit begriffen ſind, ſich ein Syſtem der Selbſtentleibung zu bauen, oder ein vol- lendetes

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/24>, abgerufen am 29.03.2024.