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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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Einleitung.
mußten; so z. B. die merkwürdigen embryologischen Beziehungen,
welche Hofmeister 1851 zwischen den Angiospermen, Gymnos-
permen, Gefäßkryptogamen und Muscineen aufdeckte; auch ver-
trug es sich schlecht mit dem Schöpfungsplan der Systematiker,
daß die physiologisch-biologischen Eigenschaften einerseits, die mor-
phologisch-systematischen Charaktere andrerseits gewöhnlich ganz
unabhängig von einander sind. So trat mehr und mehr ein
Widerspruch zwischen der eigentlich wissenschaftlichen Forschung
und den theoretischen Ansichten der Systematiker hervor und wer
sich mit Beidem beschäftigte, konnte sich eines peinlichen Gefühls
der Unsicherheit auf diesem Gebiete nicht erwehren. Dieses aber
entsprang aus dem Dogma der Constanz der Arten und der
darausfolgenden Unmöglichkeit, den Begriff der Verwandtschaft
wissenschaftlich zu definiren.

Diesem Zustand machte endlich 1859 Darwin's erstes
und bestes Buch über die Entstehung der Arten ein Ende; aus
unzähligen zum Theil neuen, meist längst bekannten Thatsachen
zeigte er, daß von einer Constanz der Arten überhaupt nicht die
Rede sein könne, daß sie nicht ein Ergebniß genauer Beobachtung,
sondern ein der Beobachtung widersprechender Glaubensartikel
sei. War dies einmal festgestellt, so ergab sich der richtige Be-
griff für das, was man bisher nur im figürlichen Sinne Ver-
wandtschaft genannt hatte, fast von selbst: Die im natürlichen
System ausgedrückten Verwandtschaftsgrade bezeichneten die ver-
schiedenen Grade der Abstammung variirender Nachkommen gemein-
samer Ureltern; aus der figürlich angenommenen Verwandtschaft
wurde echte Blutsverwandtschaft, das natürliche System wurde
ein Bild des Stammbaumes des Pflanzenreichs. Mit diesen
Sätzen war das alte Problem gelöst.

Darwin's Theorie hat vor Allem das historische Verdienst,
Klarheit an die Stelle der Unklarheit, ein naturwissenschaftliches
Prinzip an die Stelle scholastischer Denkweise auf dem Gebiet
der Systematik und Morphologie gesetzt zu haben. Dies that
Darwin jedoch nicht im Gegensatz zur geschichtlichen Entwicklung
unserer Wissenschaft oder unabhängig von ihr; vielmehr besteht

Einleitung.
mußten; ſo z. B. die merkwürdigen embryologiſchen Beziehungen,
welche Hofmeiſter 1851 zwiſchen den Angiospermen, Gymnos-
permen, Gefäßkryptogamen und Muscineen aufdeckte; auch ver-
trug es ſich ſchlecht mit dem Schöpfungsplan der Syſtematiker,
daß die phyſiologiſch-biologiſchen Eigenſchaften einerſeits, die mor-
phologiſch-ſyſtematiſchen Charaktere andrerſeits gewöhnlich ganz
unabhängig von einander ſind. So trat mehr und mehr ein
Widerſpruch zwiſchen der eigentlich wiſſenſchaftlichen Forſchung
und den theoretiſchen Anſichten der Syſtematiker hervor und wer
ſich mit Beidem beſchäftigte, konnte ſich eines peinlichen Gefühls
der Unſicherheit auf dieſem Gebiete nicht erwehren. Dieſes aber
entſprang aus dem Dogma der Conſtanz der Arten und der
darausfolgenden Unmöglichkeit, den Begriff der Verwandtſchaft
wiſſenſchaftlich zu definiren.

Dieſem Zuſtand machte endlich 1859 Darwin's erſtes
und beſtes Buch über die Entſtehung der Arten ein Ende; aus
unzähligen zum Theil neuen, meiſt längſt bekannten Thatſachen
zeigte er, daß von einer Conſtanz der Arten überhaupt nicht die
Rede ſein könne, daß ſie nicht ein Ergebniß genauer Beobachtung,
ſondern ein der Beobachtung widerſprechender Glaubensartikel
ſei. War dies einmal feſtgeſtellt, ſo ergab ſich der richtige Be-
griff für das, was man bisher nur im figürlichen Sinne Ver-
wandtſchaft genannt hatte, faſt von ſelbſt: Die im natürlichen
Syſtem ausgedrückten Verwandtſchaftsgrade bezeichneten die ver-
ſchiedenen Grade der Abſtammung variirender Nachkommen gemein-
ſamer Ureltern; aus der figürlich angenommenen Verwandtſchaft
wurde echte Blutsverwandtſchaft, das natürliche Syſtem wurde
ein Bild des Stammbaumes des Pflanzenreichs. Mit dieſen
Sätzen war das alte Problem gelöſt.

Darwin's Theorie hat vor Allem das hiſtoriſche Verdienſt,
Klarheit an die Stelle der Unklarheit, ein naturwiſſenſchaftliches
Prinzip an die Stelle ſcholaſtiſcher Denkweiſe auf dem Gebiet
der Syſtematik und Morphologie geſetzt zu haben. Dies that
Darwin jedoch nicht im Gegenſatz zur geſchichtlichen Entwicklung
unſerer Wiſſenſchaft oder unabhängig von ihr; vielmehr beſteht

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[12/0024] Einleitung. mußten; ſo z. B. die merkwürdigen embryologiſchen Beziehungen, welche Hofmeiſter 1851 zwiſchen den Angiospermen, Gymnos- permen, Gefäßkryptogamen und Muscineen aufdeckte; auch ver- trug es ſich ſchlecht mit dem Schöpfungsplan der Syſtematiker, daß die phyſiologiſch-biologiſchen Eigenſchaften einerſeits, die mor- phologiſch-ſyſtematiſchen Charaktere andrerſeits gewöhnlich ganz unabhängig von einander ſind. So trat mehr und mehr ein Widerſpruch zwiſchen der eigentlich wiſſenſchaftlichen Forſchung und den theoretiſchen Anſichten der Syſtematiker hervor und wer ſich mit Beidem beſchäftigte, konnte ſich eines peinlichen Gefühls der Unſicherheit auf dieſem Gebiete nicht erwehren. Dieſes aber entſprang aus dem Dogma der Conſtanz der Arten und der darausfolgenden Unmöglichkeit, den Begriff der Verwandtſchaft wiſſenſchaftlich zu definiren. Dieſem Zuſtand machte endlich 1859 Darwin's erſtes und beſtes Buch über die Entſtehung der Arten ein Ende; aus unzähligen zum Theil neuen, meiſt längſt bekannten Thatſachen zeigte er, daß von einer Conſtanz der Arten überhaupt nicht die Rede ſein könne, daß ſie nicht ein Ergebniß genauer Beobachtung, ſondern ein der Beobachtung widerſprechender Glaubensartikel ſei. War dies einmal feſtgeſtellt, ſo ergab ſich der richtige Be- griff für das, was man bisher nur im figürlichen Sinne Ver- wandtſchaft genannt hatte, faſt von ſelbſt: Die im natürlichen Syſtem ausgedrückten Verwandtſchaftsgrade bezeichneten die ver- ſchiedenen Grade der Abſtammung variirender Nachkommen gemein- ſamer Ureltern; aus der figürlich angenommenen Verwandtſchaft wurde echte Blutsverwandtſchaft, das natürliche Syſtem wurde ein Bild des Stammbaumes des Pflanzenreichs. Mit dieſen Sätzen war das alte Problem gelöſt. Darwin's Theorie hat vor Allem das hiſtoriſche Verdienſt, Klarheit an die Stelle der Unklarheit, ein naturwiſſenſchaftliches Prinzip an die Stelle ſcholaſtiſcher Denkweiſe auf dem Gebiet der Syſtematik und Morphologie geſetzt zu haben. Dies that Darwin jedoch nicht im Gegenſatz zur geſchichtlichen Entwicklung unſerer Wiſſenſchaft oder unabhängig von ihr; vielmehr beſteht

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/24>, abgerufen am 25.04.2024.