Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

Erinnerungen, denn es schließt sich vielmehr unmittelbar an
die Lunette im Kloster S. Severo mit dem Jahre 1505. Wie
in dem Gipfel dieses letzten, so auch in unserem Bilde die
schwebenden Engel von wirbelnder Bewegung und seltsam ver-
kürzter Ansicht; zudem in den Heiligen zu Füßen des Kreuzes
gesuchtere Gegensätze der Wendungen und Stellungen. Uebri-
gens auch hier, wie in sämmtlichen Bildern derselben Classe,
eine leichte, geistreiche Pinselführung bey geringerem, kaum das
Reisbley der Umrisse verdeckendem Impasto des Auftrages.

In schon berührtem Wandgemälde des Klosters S. Se-
vero, oben dasselbe Motiv in den herabwirbelnden Engeln,
nicht glücklicher, als dort gelöst; die Figuren der Heiligen zu
beiden Seiten des Heilands sehr verlängert. Uebrigens darin
der erste Entwurf der Glorie in dem vaticanischen Wandge-
mälde der Disputa, Christus höchst edel, herrlich die ihm zur
Seite schwebenden Jünglinge, die Charaktere der sechs Heili-
gen erhaben, die Behandlung der Gewandmassen breit und
ansehnlich. Dieses höchst merkwürdige Bild umschließt gleich-
sam den Keim alles dessen, was Raphael um einige Jahre
später in Rom geleistet, verräth das einwohnende Verlangen
seiner Seele, zeigt, daß seine spätere, glänzende Entwickelung
nicht ausschließlich begünstigenden Umständen beyzumessen ist.
In den folgenden Jahren, bis da er nach Rom gelangte,
blieb freylich seine Kunst den beschränkteren Anforderungen
des bürgerlichen Lebens gewidmet, oder es verschlang seine
Zeit das Streben nach bestimmterem Wissen, in welchem er
unablässig fortschritt.

Aus derselben Richtung, doch wohl noch später, in den
Jahren 1506 oder 1507, muß jenes abweichende Madonnen-
bild entstanden seyn, welches zu Rom, im Hause Colonna,

Erinnerungen, denn es ſchließt ſich vielmehr unmittelbar an
die Lunette im Kloſter S. Severo mit dem Jahre 1505. Wie
in dem Gipfel dieſes letzten, ſo auch in unſerem Bilde die
ſchwebenden Engel von wirbelnder Bewegung und ſeltſam ver-
kuͤrzter Anſicht; zudem in den Heiligen zu Fuͤßen des Kreuzes
geſuchtere Gegenſaͤtze der Wendungen und Stellungen. Uebri-
gens auch hier, wie in ſaͤmmtlichen Bildern derſelben Claſſe,
eine leichte, geiſtreiche Pinſelfuͤhrung bey geringerem, kaum das
Reisbley der Umriſſe verdeckendem Impaſto des Auftrages.

In ſchon beruͤhrtem Wandgemaͤlde des Kloſters S. Se-
vero, oben daſſelbe Motiv in den herabwirbelnden Engeln,
nicht gluͤcklicher, als dort geloͤſt; die Figuren der Heiligen zu
beiden Seiten des Heilands ſehr verlaͤngert. Uebrigens darin
der erſte Entwurf der Glorie in dem vaticaniſchen Wandge-
maͤlde der Diſputa, Chriſtus hoͤchſt edel, herrlich die ihm zur
Seite ſchwebenden Juͤnglinge, die Charaktere der ſechs Heili-
gen erhaben, die Behandlung der Gewandmaſſen breit und
anſehnlich. Dieſes hoͤchſt merkwuͤrdige Bild umſchließt gleich-
ſam den Keim alles deſſen, was Raphael um einige Jahre
ſpaͤter in Rom geleiſtet, verraͤth das einwohnende Verlangen
ſeiner Seele, zeigt, daß ſeine ſpaͤtere, glaͤnzende Entwickelung
nicht ausſchließlich beguͤnſtigenden Umſtaͤnden beyzumeſſen iſt.
In den folgenden Jahren, bis da er nach Rom gelangte,
blieb freylich ſeine Kunſt den beſchraͤnkteren Anforderungen
des buͤrgerlichen Lebens gewidmet, oder es verſchlang ſeine
Zeit das Streben nach beſtimmterem Wiſſen, in welchem er
unablaͤſſig fortſchritt.

Aus derſelben Richtung, doch wohl noch ſpaͤter, in den
Jahren 1506 oder 1507, muß jenes abweichende Madonnen-
bild entſtanden ſeyn, welches zu Rom, im Hauſe Colonna,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0075" n="53"/>
Erinnerungen, denn es &#x017F;chließt &#x017F;ich vielmehr unmittelbar an<lb/>
die Lunette im Klo&#x017F;ter S. Severo mit dem Jahre 1505. Wie<lb/>
in dem Gipfel die&#x017F;es letzten, &#x017F;o auch in un&#x017F;erem Bilde die<lb/>
&#x017F;chwebenden Engel von wirbelnder Bewegung und &#x017F;elt&#x017F;am ver-<lb/>
ku&#x0364;rzter An&#x017F;icht; zudem in den Heiligen zu Fu&#x0364;ßen des Kreuzes<lb/>
ge&#x017F;uchtere Gegen&#x017F;a&#x0364;tze der Wendungen und Stellungen. Uebri-<lb/>
gens auch hier, wie in &#x017F;a&#x0364;mmtlichen Bildern der&#x017F;elben Cla&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
eine leichte, gei&#x017F;treiche Pin&#x017F;elfu&#x0364;hrung bey geringerem, kaum das<lb/>
Reisbley der Umri&#x017F;&#x017F;e verdeckendem Impa&#x017F;to des Auftrages.</p><lb/>
            <p>In &#x017F;chon beru&#x0364;hrtem Wandgema&#x0364;lde des Klo&#x017F;ters S. Se-<lb/>
vero, oben da&#x017F;&#x017F;elbe Motiv in den herabwirbelnden Engeln,<lb/>
nicht glu&#x0364;cklicher, als dort gelo&#x0364;&#x017F;t; die Figuren der Heiligen zu<lb/>
beiden Seiten des Heilands &#x017F;ehr verla&#x0364;ngert. Uebrigens darin<lb/>
der er&#x017F;te Entwurf der Glorie in dem vaticani&#x017F;chen Wandge-<lb/>
ma&#x0364;lde der Di&#x017F;puta, <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118557513">Chri&#x017F;tus</persName> ho&#x0364;ch&#x017F;t edel, herrlich die ihm zur<lb/>
Seite &#x017F;chwebenden Ju&#x0364;nglinge, die Charaktere der &#x017F;echs Heili-<lb/>
gen erhaben, die Behandlung der Gewandma&#x017F;&#x017F;en breit und<lb/>
an&#x017F;ehnlich. Die&#x017F;es ho&#x0364;ch&#x017F;t merkwu&#x0364;rdige Bild um&#x017F;chließt gleich-<lb/>
&#x017F;am den Keim alles de&#x017F;&#x017F;en, was <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphael</persName> um einige Jahre<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;ter in <placeName>Rom</placeName> gelei&#x017F;tet, verra&#x0364;th das einwohnende Verlangen<lb/>
&#x017F;einer Seele, zeigt, daß &#x017F;eine &#x017F;pa&#x0364;tere, gla&#x0364;nzende Entwickelung<lb/>
nicht aus&#x017F;chließlich begu&#x0364;n&#x017F;tigenden Um&#x017F;ta&#x0364;nden beyzume&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.<lb/>
In den folgenden Jahren, bis da er nach <placeName>Rom</placeName> gelangte,<lb/>
blieb freylich &#x017F;eine Kun&#x017F;t den be&#x017F;chra&#x0364;nkteren Anforderungen<lb/>
des bu&#x0364;rgerlichen Lebens gewidmet, oder es ver&#x017F;chlang &#x017F;eine<lb/>
Zeit das Streben nach be&#x017F;timmterem Wi&#x017F;&#x017F;en, in welchem er<lb/>
unabla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig fort&#x017F;chritt.</p><lb/>
            <p>Aus der&#x017F;elben Richtung, doch wohl noch &#x017F;pa&#x0364;ter, in den<lb/>
Jahren 1506 oder 1507, muß jenes abweichende Madonnen-<lb/>
bild ent&#x017F;tanden &#x017F;eyn, welches zu <placeName>Rom</placeName>, im Hau&#x017F;e Colonna,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0075] Erinnerungen, denn es ſchließt ſich vielmehr unmittelbar an die Lunette im Kloſter S. Severo mit dem Jahre 1505. Wie in dem Gipfel dieſes letzten, ſo auch in unſerem Bilde die ſchwebenden Engel von wirbelnder Bewegung und ſeltſam ver- kuͤrzter Anſicht; zudem in den Heiligen zu Fuͤßen des Kreuzes geſuchtere Gegenſaͤtze der Wendungen und Stellungen. Uebri- gens auch hier, wie in ſaͤmmtlichen Bildern derſelben Claſſe, eine leichte, geiſtreiche Pinſelfuͤhrung bey geringerem, kaum das Reisbley der Umriſſe verdeckendem Impaſto des Auftrages. In ſchon beruͤhrtem Wandgemaͤlde des Kloſters S. Se- vero, oben daſſelbe Motiv in den herabwirbelnden Engeln, nicht gluͤcklicher, als dort geloͤſt; die Figuren der Heiligen zu beiden Seiten des Heilands ſehr verlaͤngert. Uebrigens darin der erſte Entwurf der Glorie in dem vaticaniſchen Wandge- maͤlde der Diſputa, Chriſtus hoͤchſt edel, herrlich die ihm zur Seite ſchwebenden Juͤnglinge, die Charaktere der ſechs Heili- gen erhaben, die Behandlung der Gewandmaſſen breit und anſehnlich. Dieſes hoͤchſt merkwuͤrdige Bild umſchließt gleich- ſam den Keim alles deſſen, was Raphael um einige Jahre ſpaͤter in Rom geleiſtet, verraͤth das einwohnende Verlangen ſeiner Seele, zeigt, daß ſeine ſpaͤtere, glaͤnzende Entwickelung nicht ausſchließlich beguͤnſtigenden Umſtaͤnden beyzumeſſen iſt. In den folgenden Jahren, bis da er nach Rom gelangte, blieb freylich ſeine Kunſt den beſchraͤnkteren Anforderungen des buͤrgerlichen Lebens gewidmet, oder es verſchlang ſeine Zeit das Streben nach beſtimmterem Wiſſen, in welchem er unablaͤſſig fortſchritt. Aus derſelben Richtung, doch wohl noch ſpaͤter, in den Jahren 1506 oder 1507, muß jenes abweichende Madonnen- bild entſtanden ſeyn, welches zu Rom, im Hauſe Colonna,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/75
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/75>, abgerufen am 23.04.2024.