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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

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Doch, ehe ich diese ersten Symptome einer vorübergehen-
den Hinneigung zum Willkührlichen, Flüchtigen, bis zum Ge-
zierten Anmuthigen, weiter verfolge, werde ich Einiges dem
Sposalizio sich näher Anschließende, ihm wahrscheinlich Gleich-
zeitige, oder nahe Vorangehende einschalten müssen.

Unter den Arbeiten der bezeichneten Classe gewähre ich
bereitwillig der Pieta des Grafen Tosi zu Brescia die erste
Stelle. Die Höhe dieser kleinen Tafel beträgt etwa fünf
Viertheile eines rheinischen Fußes; die Breite drey. Nach
dem Herkommen, eine entkleidete Halbfigur; die Stellung, die
Lagen der Glieder und Formen, hier nach einem wunderbaren
Schönheitsgefühle in den engen Raum wohl eingeordnet. Der
Ausdruck in dem schönen Antlitz, die reinen, züchtigen Formen,
die edle Haltung des Bildes, der rechte Arm, bis zum Ge-
lenke anliegend, von diesem aus sanft erhoben zum Segnen.

Leider hat dieses köstliche Bildchen der Restaurator so
glatt gerieben, daß nur an einzelnen Stellen, unter den Augen,

welche gemeiniglich dem Pietro beygemessen wird, von Raphaels Hand
a fresco gemalt sey. Im Allgemeinen ist dem Urtheil dieses anmaßlichen
Mannes wenig zu trauen; indeß giebt seine Beschreibung des Werkes,
welches ich nicht gesehen, seiner Vermuthung einen Anstrich von Wahr-
scheinlichkeit. Ein deutscher Künstler, welcher des della Valle Vermu-
thung nicht kannte, schrieb mir: "Die Anbetung der Könige von Pietro
gehört zu dem Minderwichtigen, welches von diesem Meister mir zu Ge-
sicht gekommen. Nahe gesehn, erscheint es als eine farbige Kreidezeich-
nung, so stark ist es schraffirt." Diese Angabe scheint jene Vermuthung
zu unterstützen. Der Künstler suchte Pietro, fand etwas von ihm Ab-
weichendes, daher sein Mißfallen. Die Schraffirungen, welche Raphael
noch in der Disputa beybehalten, sind das Zeichen eines ungeübten Ma-
lers al fresco, welcher mehr beabsichtigt, als er auf ein Mal hervorbrin-
gen kann. Es verlohnte, an Ort und Stelle zu untersuchen, ob das
Werk des jungen Raphael werth sey.

Doch, ehe ich dieſe erſten Symptome einer voruͤbergehen-
den Hinneigung zum Willkuͤhrlichen, Fluͤchtigen, bis zum Ge-
zierten Anmuthigen, weiter verfolge, werde ich Einiges dem
Spoſalizio ſich naͤher Anſchließende, ihm wahrſcheinlich Gleich-
zeitige, oder nahe Vorangehende einſchalten muͤſſen.

Unter den Arbeiten der bezeichneten Claſſe gewaͤhre ich
bereitwillig der Pietà des Grafen Toſi zu Brescia die erſte
Stelle. Die Hoͤhe dieſer kleinen Tafel betraͤgt etwa fuͤnf
Viertheile eines rheiniſchen Fußes; die Breite drey. Nach
dem Herkommen, eine entkleidete Halbfigur; die Stellung, die
Lagen der Glieder und Formen, hier nach einem wunderbaren
Schoͤnheitsgefuͤhle in den engen Raum wohl eingeordnet. Der
Ausdruck in dem ſchoͤnen Antlitz, die reinen, zuͤchtigen Formen,
die edle Haltung des Bildes, der rechte Arm, bis zum Ge-
lenke anliegend, von dieſem aus ſanft erhoben zum Segnen.

Leider hat dieſes koͤſtliche Bildchen der Reſtaurator ſo
glatt gerieben, daß nur an einzelnen Stellen, unter den Augen,

welche gemeiniglich dem Pietro beygemeſſen wird, von Raphaels Hand
a fresco gemalt ſey. Im Allgemeinen iſt dem Urtheil dieſes anmaßlichen
Mannes wenig zu trauen; indeß giebt ſeine Beſchreibung des Werkes,
welches ich nicht geſehen, ſeiner Vermuthung einen Anſtrich von Wahr-
ſcheinlichkeit. Ein deutſcher Künſtler, welcher des della Valle Vermu-
thung nicht kannte, ſchrieb mir: „Die Anbetung der Könige von Pietro
gehört zu dem Minderwichtigen, welches von dieſem Meiſter mir zu Ge-
ſicht gekommen. Nahe geſehn, erſcheint es als eine farbige Kreidezeich-
nung, ſo ſtark iſt es ſchraffirt.“ Dieſe Angabe ſcheint jene Vermuthung
zu unterſtützen. Der Künſtler ſuchte Pietro, fand etwas von ihm Ab-
weichendes, daher ſein Mißfallen. Die Schraffirungen, welche Raphael
noch in der Diſputa beybehalten, ſind das Zeichen eines ungeübten Ma-
lers al fresco, welcher mehr beabſichtigt, als er auf ein Mal hervorbrin-
gen kann. Es verlohnte, an Ort und Stelle zu unterſuchen, ob das
Werk des jungen Raphael werth ſey.
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[38/0060] Doch, ehe ich dieſe erſten Symptome einer voruͤbergehen- den Hinneigung zum Willkuͤhrlichen, Fluͤchtigen, bis zum Ge- zierten Anmuthigen, weiter verfolge, werde ich Einiges dem Spoſalizio ſich naͤher Anſchließende, ihm wahrſcheinlich Gleich- zeitige, oder nahe Vorangehende einſchalten muͤſſen. Unter den Arbeiten der bezeichneten Claſſe gewaͤhre ich bereitwillig der Pietà des Grafen Toſi zu Brescia die erſte Stelle. Die Hoͤhe dieſer kleinen Tafel betraͤgt etwa fuͤnf Viertheile eines rheiniſchen Fußes; die Breite drey. Nach dem Herkommen, eine entkleidete Halbfigur; die Stellung, die Lagen der Glieder und Formen, hier nach einem wunderbaren Schoͤnheitsgefuͤhle in den engen Raum wohl eingeordnet. Der Ausdruck in dem ſchoͤnen Antlitz, die reinen, zuͤchtigen Formen, die edle Haltung des Bildes, der rechte Arm, bis zum Ge- lenke anliegend, von dieſem aus ſanft erhoben zum Segnen. Leider hat dieſes koͤſtliche Bildchen der Reſtaurator ſo glatt gerieben, daß nur an einzelnen Stellen, unter den Augen, *) *) welche gemeiniglich dem Pietro beygemeſſen wird, von Raphaels Hand a fresco gemalt ſey. Im Allgemeinen iſt dem Urtheil dieſes anmaßlichen Mannes wenig zu trauen; indeß giebt ſeine Beſchreibung des Werkes, welches ich nicht geſehen, ſeiner Vermuthung einen Anſtrich von Wahr- ſcheinlichkeit. Ein deutſcher Künſtler, welcher des della Valle Vermu- thung nicht kannte, ſchrieb mir: „Die Anbetung der Könige von Pietro gehört zu dem Minderwichtigen, welches von dieſem Meiſter mir zu Ge- ſicht gekommen. Nahe geſehn, erſcheint es als eine farbige Kreidezeich- nung, ſo ſtark iſt es ſchraffirt.“ Dieſe Angabe ſcheint jene Vermuthung zu unterſtützen. Der Künſtler ſuchte Pietro, fand etwas von ihm Ab- weichendes, daher ſein Mißfallen. Die Schraffirungen, welche Raphael noch in der Diſputa beybehalten, ſind das Zeichen eines ungeübten Ma- lers al fresco, welcher mehr beabſichtigt, als er auf ein Mal hervorbrin- gen kann. Es verlohnte, an Ort und Stelle zu unterſuchen, ob das Werk des jungen Raphael werth ſey.

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/60>, abgerufen am 19.04.2024.