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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

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den großartig geschwungenen, festen Umrissen *) des Michel-
angelo
, wie endlich der zierlichen Gediegenheit ganz bildneri-
scher Formen, in Raphaels Werken höchst selten und nur an
solchen Stellen begegnen, wo die allgemeine Aufgabe, oder
besondere Absicht des Künstlers deren Eintreten gestattete. Es
ergab sich daher aus diesen verschiedenen Vergleichungen, daß
Raphaels Arbeiten, wenn auch darin einige ganz gelungene
Parthien, recht lobenswerthe Gliedmaßen vorkommen, doch
eigentlich keine einzige ganz musterhafte (den angelegten Nor-
men genau entsprechende) Gestalt enthalten **).

Es giebt keinen Ausweg, auf irgend eine Weise ist hier
ein Irrthum. Angenommen, daß Raphael ein geringer Künst-
ler sey, wie er doch seyn müßte, wenn alles zur Schönheit
Gehörige ihm fehlte; weßhalb denn mit ihm rechten, weil
er etwa nicht leistet, was jedesmal für das Höchste und Beste
gilt? Ist er aber im Gegentheil ein vortrefflicher Künstler, so
dürfte aus seinem Nichtübereintreffen mit den Vorstellungen,
welche man jedesmal vom Schönen sich hat bilden wollen,
mit ungleich mehr Sicherheit auf deren Beschränktheit, oder
gänzliche Irrigkeit zu schließen seyn, als auf Mängel oder Un-
vollkommenheiten des Künstlers.

Ohne Begünstigung vorgefaßter Meinungen angestellt,
würden demnach jene so oft wiederholten Vergleichungen der
Verdienste Raphaels mit denen anderer Künstler und Kunst-
epochen vielmehr die Zweifel hervorgerufen haben: ob die

*) Lettere sulla pitt. etc. To. V. Lett. XLI. -- che in quanto
a certa fierezza e terribilita di disegno M. Angelo non tenga
senza dubbio la prima palma.
**) Besonders naiv in einem Aufsatze der Propyläen; doch liegt
derselbe Sinn schon in dem: altro che Rafaello, des Annibale.

den großartig geſchwungenen, feſten Umriſſen *) des Michel-
angelo
, wie endlich der zierlichen Gediegenheit ganz bildneri-
ſcher Formen, in Raphaels Werken hoͤchſt ſelten und nur an
ſolchen Stellen begegnen, wo die allgemeine Aufgabe, oder
beſondere Abſicht des Kuͤnſtlers deren Eintreten geſtattete. Es
ergab ſich daher aus dieſen verſchiedenen Vergleichungen, daß
Raphaels Arbeiten, wenn auch darin einige ganz gelungene
Parthien, recht lobenswerthe Gliedmaßen vorkommen, doch
eigentlich keine einzige ganz muſterhafte (den angelegten Nor-
men genau entſprechende) Geſtalt enthalten **).

Es giebt keinen Ausweg, auf irgend eine Weiſe iſt hier
ein Irrthum. Angenommen, daß Raphael ein geringer Kuͤnſt-
ler ſey, wie er doch ſeyn muͤßte, wenn alles zur Schoͤnheit
Gehoͤrige ihm fehlte; weßhalb denn mit ihm rechten, weil
er etwa nicht leiſtet, was jedesmal fuͤr das Hoͤchſte und Beſte
gilt? Iſt er aber im Gegentheil ein vortrefflicher Kuͤnſtler, ſo
duͤrfte aus ſeinem Nichtuͤbereintreffen mit den Vorſtellungen,
welche man jedesmal vom Schoͤnen ſich hat bilden wollen,
mit ungleich mehr Sicherheit auf deren Beſchraͤnktheit, oder
gaͤnzliche Irrigkeit zu ſchließen ſeyn, als auf Maͤngel oder Un-
vollkommenheiten des Kuͤnſtlers.

Ohne Beguͤnſtigung vorgefaßter Meinungen angeſtellt,
wuͤrden demnach jene ſo oft wiederholten Vergleichungen der
Verdienſte Raphaels mit denen anderer Kuͤnſtler und Kunſt-
epochen vielmehr die Zweifel hervorgerufen haben: ob die

*) Lettere sulla pitt. etc. To. V. Lett. XLI. — che in quanto
a certa fierezza e terribilità di disegno M. Angelo non tenga
senza dubbio la prima palma.
**) Beſonders naiv in einem Aufſatze der Propyläen; doch liegt
derſelbe Sinn ſchon in dem: altro che Rafaello, des Annibale.
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[12/0034] den großartig geſchwungenen, feſten Umriſſen *) des Michel- angelo, wie endlich der zierlichen Gediegenheit ganz bildneri- ſcher Formen, in Raphaels Werken hoͤchſt ſelten und nur an ſolchen Stellen begegnen, wo die allgemeine Aufgabe, oder beſondere Abſicht des Kuͤnſtlers deren Eintreten geſtattete. Es ergab ſich daher aus dieſen verſchiedenen Vergleichungen, daß Raphaels Arbeiten, wenn auch darin einige ganz gelungene Parthien, recht lobenswerthe Gliedmaßen vorkommen, doch eigentlich keine einzige ganz muſterhafte (den angelegten Nor- men genau entſprechende) Geſtalt enthalten **). Es giebt keinen Ausweg, auf irgend eine Weiſe iſt hier ein Irrthum. Angenommen, daß Raphael ein geringer Kuͤnſt- ler ſey, wie er doch ſeyn muͤßte, wenn alles zur Schoͤnheit Gehoͤrige ihm fehlte; weßhalb denn mit ihm rechten, weil er etwa nicht leiſtet, was jedesmal fuͤr das Hoͤchſte und Beſte gilt? Iſt er aber im Gegentheil ein vortrefflicher Kuͤnſtler, ſo duͤrfte aus ſeinem Nichtuͤbereintreffen mit den Vorſtellungen, welche man jedesmal vom Schoͤnen ſich hat bilden wollen, mit ungleich mehr Sicherheit auf deren Beſchraͤnktheit, oder gaͤnzliche Irrigkeit zu ſchließen ſeyn, als auf Maͤngel oder Un- vollkommenheiten des Kuͤnſtlers. Ohne Beguͤnſtigung vorgefaßter Meinungen angeſtellt, wuͤrden demnach jene ſo oft wiederholten Vergleichungen der Verdienſte Raphaels mit denen anderer Kuͤnſtler und Kunſt- epochen vielmehr die Zweifel hervorgerufen haben: ob die *) Lettere sulla pitt. etc. To. V. Lett. XLI. — che in quanto a certa fierezza e terribilità di disegno M. Angelo non tenga senza dubbio la prima palma. **) Beſonders naiv in einem Aufſatze der Propyläen; doch liegt derſelbe Sinn ſchon in dem: altro che Rafaello, des Annibale.

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/34>, abgerufen am 29.03.2024.