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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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zu schützen und sich, für diesen Zweck, gegen die Schönheit
und gegen das Individuum gleichgültig zu verhalten. Hierin
liegt der Grund, weshalb die Natur auch wirklich häßliche
Thiere hervorbringt d. h. Thiere, die nicht blos durch Ver¬
stümmelung oder Alter und Krankheit häßlich werden, sondern
bei denen die häßliche Form constitutiv ist. Für unser ästhe¬
tisches Urtheil schleichen sich hierbei viel Täuschungen ein,
theils durch Gewöhnung an einen Typus, den wir dann für
schön, so wie eine Abweichung von ihm für häßlich zuhalten
geneigt sind; theils durch die Isolirung des Thiers in der
abstracten Weise, wie ein Kupferstich oder ein Exemplar in
einer Sammlung uns das Thier vorführt. Wie ganz anders
erscheint ein Thier lebendig in seiner natürlichen Umgebung,
der Frosch im Wasser, die Eidechse im Grase oder in der
Felsenspalte, der Affe am Baum kletternd, der Eisbär auf
der Eisscholle u. s. w.

Die Krystalle können sich in ihrer starren Regelmäßigkeit
wenn sie im Act ihrer Formation gehemmt werden, empirisch
unvollkommen ausbilden, in ihrem Begriff aber liegt die
Schönheit der stereometrischen Gestalt. Die Pflanzen können
verstümmelt werden oder von Innen her abwelken und sich
entstalten, aber ihrem Begriff nach sind sie schön. Wenn
sie in manchen Formen häßlich zu werden scheinen, mildern
sie die Unförmlichkeit sogleich durch einen komischen Zug,
wie das Geschlecht der Cactus, der Rüben, der Cucurbitaceen,
welche letztere namentlich von der Malerei schon öfter zu
phantastisch komischen Figuren benutzt sind (10). Bei dem
Thier dagegen, es ist nicht zu leugnen, erzeugen sich Formen
von ursprünglicher Häßlichkeit, die ihren Gräuelanblick durch
keinen komischen Zug aufheitern. Der Realgrund solcher
Gestalten ist die Nothwendigkeit der Natur, den Thierorga¬

zu ſchützen und ſich, für dieſen Zweck, gegen die Schönheit
und gegen das Individuum gleichgültig zu verhalten. Hierin
liegt der Grund, weshalb die Natur auch wirklich häßliche
Thiere hervorbringt d. h. Thiere, die nicht blos durch Ver¬
ſtümmelung oder Alter und Krankheit häßlich werden, ſondern
bei denen die häßliche Form conſtitutiv iſt. Für unſer äſthe¬
tiſches Urtheil ſchleichen ſich hierbei viel Täuſchungen ein,
theils durch Gewöhnung an einen Typus, den wir dann für
ſchön, ſo wie eine Abweichung von ihm für häßlich zuhalten
geneigt ſind; theils durch die Iſolirung des Thiers in der
abſtracten Weiſe, wie ein Kupferſtich oder ein Exemplar in
einer Sammlung uns das Thier vorführt. Wie ganz anders
erſcheint ein Thier lebendig in ſeiner natürlichen Umgebung,
der Froſch im Waſſer, die Eidechſe im Graſe oder in der
Felſenſpalte, der Affe am Baum kletternd, der Eisbär auf
der Eisſcholle u. ſ. w.

Die Kryſtalle können ſich in ihrer ſtarren Regelmäßigkeit
wenn ſie im Act ihrer Formation gehemmt werden, empiriſch
unvollkommen ausbilden, in ihrem Begriff aber liegt die
Schönheit der ſtereometriſchen Geſtalt. Die Pflanzen können
verſtümmelt werden oder von Innen her abwelken und ſich
entſtalten, aber ihrem Begriff nach ſind ſie ſchön. Wenn
ſie in manchen Formen häßlich zu werden ſcheinen, mildern
ſie die Unförmlichkeit ſogleich durch einen komiſchen Zug,
wie das Geſchlecht der Cactus, der Rüben, der Cucurbitaceen,
welche letztere namentlich von der Malerei ſchon öfter zu
phantaſtiſch komiſchen Figuren benutzt ſind (10). Bei dem
Thier dagegen, es iſt nicht zu leugnen, erzeugen ſich Formen
von urſprünglicher Häßlichkeit, die ihren Gräuelanblick durch
keinen komiſchen Zug aufheitern. Der Realgrund ſolcher
Geſtalten iſt die Nothwendigkeit der Natur, den Thierorga¬

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[21/0043] zu ſchützen und ſich, für dieſen Zweck, gegen die Schönheit und gegen das Individuum gleichgültig zu verhalten. Hierin liegt der Grund, weshalb die Natur auch wirklich häßliche Thiere hervorbringt d. h. Thiere, die nicht blos durch Ver¬ ſtümmelung oder Alter und Krankheit häßlich werden, ſondern bei denen die häßliche Form conſtitutiv iſt. Für unſer äſthe¬ tiſches Urtheil ſchleichen ſich hierbei viel Täuſchungen ein, theils durch Gewöhnung an einen Typus, den wir dann für ſchön, ſo wie eine Abweichung von ihm für häßlich zuhalten geneigt ſind; theils durch die Iſolirung des Thiers in der abſtracten Weiſe, wie ein Kupferſtich oder ein Exemplar in einer Sammlung uns das Thier vorführt. Wie ganz anders erſcheint ein Thier lebendig in ſeiner natürlichen Umgebung, der Froſch im Waſſer, die Eidechſe im Graſe oder in der Felſenſpalte, der Affe am Baum kletternd, der Eisbär auf der Eisſcholle u. ſ. w. Die Kryſtalle können ſich in ihrer ſtarren Regelmäßigkeit wenn ſie im Act ihrer Formation gehemmt werden, empiriſch unvollkommen ausbilden, in ihrem Begriff aber liegt die Schönheit der ſtereometriſchen Geſtalt. Die Pflanzen können verſtümmelt werden oder von Innen her abwelken und ſich entſtalten, aber ihrem Begriff nach ſind ſie ſchön. Wenn ſie in manchen Formen häßlich zu werden ſcheinen, mildern ſie die Unförmlichkeit ſogleich durch einen komiſchen Zug, wie das Geſchlecht der Cactus, der Rüben, der Cucurbitaceen, welche letztere namentlich von der Malerei ſchon öfter zu phantaſtiſch komiſchen Figuren benutzt ſind (10). Bei dem Thier dagegen, es iſt nicht zu leugnen, erzeugen ſich Formen von urſprünglicher Häßlichkeit, die ihren Gräuelanblick durch keinen komiſchen Zug aufheitern. Der Realgrund ſolcher Geſtalten iſt die Nothwendigkeit der Natur, den Thierorga¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/43>, abgerufen am 29.03.2024.