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Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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mente, daß die herumgeworfenen Wellenkreise an unserem versteckten Nachen hoch aufsprangen.

Jetzt setzte das schöne Mädchen im Kahne ihren fertigen Kranz auf und bog sich über, um ihr Bild im Wasser zu betrachten. Aber der Spiegel war durch die Bewegung unterbrochen. Da erhob sie sich und klatschte in die Hände. Plötzlich rief eine Stimme aus dem hüpfenden Chor: Schlangenkönigin! Schlangenkönigin! Und: Schlangenkönigin! tönte es mit Jubel und Händeklatschen aus allen Kehlen. Diese Huldigung schien ihr zu gefallen. Schnell hob sie sich empor, streckte die Arme aus und rief mit lachendem Gesicht:

Schlangenkönig im tiefen Grund, Hab' deine Kinder gepflegt allstund, Hab' sie genährt drei Jahre schon, Sage, was giebst du mir zum Lohn? Sage, wo liegt dein goldner Schatz? Komm herauf und zeig mir bei Platz, Schlangenkönig, herauf!

Da leuchtete das Wetter heftiger auf, und näher grollte schon der Donner. Die Schlangenkönigin schien zu erschrecken. Nach Hause! rief sie. Nach Hause! Die kleine, nackte Koboldschaar sprang ans Ufer, das Mädchen ergriff das Ruder und stieß den Kahn um eine schilfige Ecke, und im Nu war das ganze Gebilde unseres Sommernachtstraums zerstoben. Mir erschien es wie die Vision eines goldenen Zeitalters, ein flüchtiges Geschenk der Poesie, voll Unschuld und Liebenswürdig-

mente, daß die herumgeworfenen Wellenkreise an unserem versteckten Nachen hoch aufsprangen.

Jetzt setzte das schöne Mädchen im Kahne ihren fertigen Kranz auf und bog sich über, um ihr Bild im Wasser zu betrachten. Aber der Spiegel war durch die Bewegung unterbrochen. Da erhob sie sich und klatschte in die Hände. Plötzlich rief eine Stimme aus dem hüpfenden Chor: Schlangenkönigin! Schlangenkönigin! Und: Schlangenkönigin! tönte es mit Jubel und Händeklatschen aus allen Kehlen. Diese Huldigung schien ihr zu gefallen. Schnell hob sie sich empor, streckte die Arme aus und rief mit lachendem Gesicht:

Schlangenkönig im tiefen Grund, Hab' deine Kinder gepflegt allstund, Hab' sie genährt drei Jahre schon, Sage, was giebst du mir zum Lohn? Sage, wo liegt dein goldner Schatz? Komm herauf und zeig mir bei Platz, Schlangenkönig, herauf!

Da leuchtete das Wetter heftiger auf, und näher grollte schon der Donner. Die Schlangenkönigin schien zu erschrecken. Nach Hause! rief sie. Nach Hause! Die kleine, nackte Koboldschaar sprang ans Ufer, das Mädchen ergriff das Ruder und stieß den Kahn um eine schilfige Ecke, und im Nu war das ganze Gebilde unseres Sommernachtstraums zerstoben. Mir erschien es wie die Vision eines goldenen Zeitalters, ein flüchtiges Geschenk der Poesie, voll Unschuld und Liebenswürdig-

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Zitationshilfe: Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910/23>, abgerufen am 29.03.2024.