Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

wendischen Sprache ziemlich Herr wurde. Wir hatten dieselben Lehrer und lebten auch sonst in jeder Weise wie Brüder.

Mein Vater verheirathete sich wieder. Die Stiefmutter vernachlässigte mich nicht gerade, brachte mir aber doch keine so große Zärtlichkeit entgegen, daß sie mich der treuen Kascha hätte abspänstig machen können. Erst in späteren Jahren, als sie die Hoffnung, Kinder zu bekommen, aufgegeben hatte, entstand ein innigeres Verhältniß zwischen uns, und ich darf nicht ungesagt lassen, daß das schöne und freundschaftliche Entgegenkommen gegen den nun schon heranwachsenden Sohn durchaus von ihr und einem herzlichen Bedürfniß ausging.

Franz und ich hatten dieselben Neigungen und Eigenthümlichkeiten. Wir waren beide mehr innerlich lebende, träumerische Naturen, Poesie und Künste zogen uns über Alles an. Es war im Anfang des Jahrhunderts, Schiller stand in frischestem Andenken, Goethe noch in schönster Blüte. Wir gaben uns der neuen idealen Welt, die diese beiden Genien erschaffen, mit ganzer Seele hin und fanden darin in meiner Stiefmutter eine begeisterte Theilnehmerin. Indessen überkam mich, der ich bis zu meinem achtzehnten Jahre außer Berlin noch nichts gesehen hatte, ein immer heftigeret Drang in die Welt hinaus. Und da mir Franz und Kascha oft und viel von ihrer Heimath erzählt hatten, so wurde der Spreewald das Land meiner

wendischen Sprache ziemlich Herr wurde. Wir hatten dieselben Lehrer und lebten auch sonst in jeder Weise wie Brüder.

Mein Vater verheirathete sich wieder. Die Stiefmutter vernachlässigte mich nicht gerade, brachte mir aber doch keine so große Zärtlichkeit entgegen, daß sie mich der treuen Kascha hätte abspänstig machen können. Erst in späteren Jahren, als sie die Hoffnung, Kinder zu bekommen, aufgegeben hatte, entstand ein innigeres Verhältniß zwischen uns, und ich darf nicht ungesagt lassen, daß das schöne und freundschaftliche Entgegenkommen gegen den nun schon heranwachsenden Sohn durchaus von ihr und einem herzlichen Bedürfniß ausging.

Franz und ich hatten dieselben Neigungen und Eigenthümlichkeiten. Wir waren beide mehr innerlich lebende, träumerische Naturen, Poesie und Künste zogen uns über Alles an. Es war im Anfang des Jahrhunderts, Schiller stand in frischestem Andenken, Goethe noch in schönster Blüte. Wir gaben uns der neuen idealen Welt, die diese beiden Genien erschaffen, mit ganzer Seele hin und fanden darin in meiner Stiefmutter eine begeisterte Theilnehmerin. Indessen überkam mich, der ich bis zu meinem achtzehnten Jahre außer Berlin noch nichts gesehen hatte, ein immer heftigeret Drang in die Welt hinaus. Und da mir Franz und Kascha oft und viel von ihrer Heimath erzählt hatten, so wurde der Spreewald das Land meiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0010"/>
wendischen Sprache ziemlich Herr wurde. Wir hatten dieselben Lehrer und lebten auch                sonst in jeder Weise wie Brüder.</p><lb/>
        <p>Mein Vater verheirathete sich wieder. Die Stiefmutter vernachlässigte mich nicht                gerade, brachte mir aber doch keine so große Zärtlichkeit entgegen, daß sie mich der                treuen Kascha hätte abspänstig machen können. Erst in späteren Jahren, als sie die                Hoffnung, Kinder zu bekommen, aufgegeben hatte, entstand ein innigeres Verhältniß                zwischen uns, und ich darf nicht ungesagt lassen, daß das schöne und                freundschaftliche Entgegenkommen gegen den nun schon heranwachsenden Sohn durchaus                von ihr und einem herzlichen Bedürfniß ausging.</p><lb/>
        <p>Franz und ich hatten dieselben Neigungen und Eigenthümlichkeiten. Wir waren beide                mehr innerlich lebende, träumerische Naturen, Poesie und Künste zogen uns über Alles                an. Es war im Anfang des Jahrhunderts, Schiller stand in frischestem Andenken, Goethe                noch in schönster Blüte. Wir gaben uns der neuen idealen Welt, die diese beiden                Genien erschaffen, mit ganzer Seele hin und fanden darin in meiner Stiefmutter eine                begeisterte Theilnehmerin. Indessen überkam mich, der ich bis zu meinem achtzehnten                Jahre außer Berlin noch nichts gesehen hatte, ein immer heftigeret Drang in die Welt                hinaus. Und da mir Franz und Kascha oft und viel von ihrer Heimath erzählt hatten, so                wurde der Spreewald das Land meiner<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0010] wendischen Sprache ziemlich Herr wurde. Wir hatten dieselben Lehrer und lebten auch sonst in jeder Weise wie Brüder. Mein Vater verheirathete sich wieder. Die Stiefmutter vernachlässigte mich nicht gerade, brachte mir aber doch keine so große Zärtlichkeit entgegen, daß sie mich der treuen Kascha hätte abspänstig machen können. Erst in späteren Jahren, als sie die Hoffnung, Kinder zu bekommen, aufgegeben hatte, entstand ein innigeres Verhältniß zwischen uns, und ich darf nicht ungesagt lassen, daß das schöne und freundschaftliche Entgegenkommen gegen den nun schon heranwachsenden Sohn durchaus von ihr und einem herzlichen Bedürfniß ausging. Franz und ich hatten dieselben Neigungen und Eigenthümlichkeiten. Wir waren beide mehr innerlich lebende, träumerische Naturen, Poesie und Künste zogen uns über Alles an. Es war im Anfang des Jahrhunderts, Schiller stand in frischestem Andenken, Goethe noch in schönster Blüte. Wir gaben uns der neuen idealen Welt, die diese beiden Genien erschaffen, mit ganzer Seele hin und fanden darin in meiner Stiefmutter eine begeisterte Theilnehmerin. Indessen überkam mich, der ich bis zu meinem achtzehnten Jahre außer Berlin noch nichts gesehen hatte, ein immer heftigeret Drang in die Welt hinaus. Und da mir Franz und Kascha oft und viel von ihrer Heimath erzählt hatten, so wurde der Spreewald das Land meiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T10:15:33Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T10:15:33Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910/10
Zitationshilfe: Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910/10>, abgerufen am 19.04.2024.