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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Zwecke. Durch den Augenschein bestätigt sich also, was aus
Homers Gedichten nur mühsam erschlossen werden konnte: es
gab eine Zeit, in der auch die Griechen glaubten, dass nach
der Trennung vom Leibe die Psyche nicht gänzlich abscheide
von allem Verkehr mit der Oberwelt, in der solcher Glaube
auch bei ihnen einen Seelencult, auch über die Zeit der Bestattung
des Leibes hinaus, hervorrief, der freilich in homerischer Zeit,
bei veränderter Glaubensansicht, sinnlos geworden war.

II.

Die homerische Dichtung macht Ernst mit der Ueber-
zeugung von dem Abscheiden der Seelen in ein bewusstloses
Halbleben im unerreichbaren Todtenlande. Ohne helles Be-
wusstsein, daher auch ohne Streben und Wollen, ohne Einfluss
auf das Leben der Oberwelt, daher auch der Verehrung der
Lebenden nicht länger theilhaftig, sind die Todten der Angst
wie der Liebe gleich ferne gerückt. Es giebt kein Mittel, sie
herbei zu zwingen oder zu locken, von Todtenbeschwörungen,
Todtenorakeln 1), den späteren Griechen so wohl bekannt, ver-
räth Homer keine Kenntniss. Auch in die Dichtung selbst,
die Führung der poetischen Handlung, greifen wohl die Götter
ein, die Seelen der Abgeschiedenen niemals. Gleich die nächsten
Fortsetzer der homerischen Heldendichtung halten es hierin
ganz anders. Für Homer hat die Seele, einmal gebannt in
den Hades, keine Bedeutung mehr.

Bedenkt man, wie es in vorhomerischer Zeit anders ge-
wesen sein muss, wie es nach Homer so ganz anders wurde,
so wird man wenigstens der Verwunderung Ausdruck geben

1) Schwerlich kennt Homer auch nur Traumorakel (die den Todten-
orakeln sehr nahe stehen würden). Dass Il. A 63 die egkoimesis "wenig-
stens angedeutet" werde (wie Nägelsbach, Nachhom. Theol. 172 meint),
ist nicht ganz gewiss. Der oneiropolos wird nicht sein ein absichtlich zum
mantischen Schlaf sich hinlegender Priester, der uper eteron oneirous ora,
sondern eher ein oneirokrites, ein Ausleger fremder, ungesucht gekommener
Traumgesichte.

Zwecke. Durch den Augenschein bestätigt sich also, was aus
Homers Gedichten nur mühsam erschlossen werden konnte: es
gab eine Zeit, in der auch die Griechen glaubten, dass nach
der Trennung vom Leibe die Psyche nicht gänzlich abscheide
von allem Verkehr mit der Oberwelt, in der solcher Glaube
auch bei ihnen einen Seelencult, auch über die Zeit der Bestattung
des Leibes hinaus, hervorrief, der freilich in homerischer Zeit,
bei veränderter Glaubensansicht, sinnlos geworden war.

II.

Die homerische Dichtung macht Ernst mit der Ueber-
zeugung von dem Abscheiden der Seelen in ein bewusstloses
Halbleben im unerreichbaren Todtenlande. Ohne helles Be-
wusstsein, daher auch ohne Streben und Wollen, ohne Einfluss
auf das Leben der Oberwelt, daher auch der Verehrung der
Lebenden nicht länger theilhaftig, sind die Todten der Angst
wie der Liebe gleich ferne gerückt. Es giebt kein Mittel, sie
herbei zu zwingen oder zu locken, von Todtenbeschwörungen,
Todtenorakeln 1), den späteren Griechen so wohl bekannt, ver-
räth Homer keine Kenntniss. Auch in die Dichtung selbst,
die Führung der poetischen Handlung, greifen wohl die Götter
ein, die Seelen der Abgeschiedenen niemals. Gleich die nächsten
Fortsetzer der homerischen Heldendichtung halten es hierin
ganz anders. Für Homer hat die Seele, einmal gebannt in
den Hades, keine Bedeutung mehr.

Bedenkt man, wie es in vorhomerischer Zeit anders ge-
wesen sein muss, wie es nach Homer so ganz anders wurde,
so wird man wenigstens der Verwunderung Ausdruck geben

1) Schwerlich kennt Homer auch nur Traumorakel (die den Todten-
orakeln sehr nahe stehen würden). Dass Il. A 63 die ἐγκοίμησις „wenig-
stens angedeutet“ werde (wie Nägelsbach, Nachhom. Theol. 172 meint),
ist nicht ganz gewiss. Der ὀνειροπόλος wird nicht sein ein absichtlich zum
mantischen Schlaf sich hinlegender Priester, der ὑπὲρ ἑτέρων ὀνείρους ὁρᾷ,
sondern eher ein ὀνειροκρίτης, ein Ausleger fremder, ungesucht gekommener
Traumgesichte.
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[34/0050] Zwecke. Durch den Augenschein bestätigt sich also, was aus Homers Gedichten nur mühsam erschlossen werden konnte: es gab eine Zeit, in der auch die Griechen glaubten, dass nach der Trennung vom Leibe die Psyche nicht gänzlich abscheide von allem Verkehr mit der Oberwelt, in der solcher Glaube auch bei ihnen einen Seelencult, auch über die Zeit der Bestattung des Leibes hinaus, hervorrief, der freilich in homerischer Zeit, bei veränderter Glaubensansicht, sinnlos geworden war. II. Die homerische Dichtung macht Ernst mit der Ueber- zeugung von dem Abscheiden der Seelen in ein bewusstloses Halbleben im unerreichbaren Todtenlande. Ohne helles Be- wusstsein, daher auch ohne Streben und Wollen, ohne Einfluss auf das Leben der Oberwelt, daher auch der Verehrung der Lebenden nicht länger theilhaftig, sind die Todten der Angst wie der Liebe gleich ferne gerückt. Es giebt kein Mittel, sie herbei zu zwingen oder zu locken, von Todtenbeschwörungen, Todtenorakeln 1), den späteren Griechen so wohl bekannt, ver- räth Homer keine Kenntniss. Auch in die Dichtung selbst, die Führung der poetischen Handlung, greifen wohl die Götter ein, die Seelen der Abgeschiedenen niemals. Gleich die nächsten Fortsetzer der homerischen Heldendichtung halten es hierin ganz anders. Für Homer hat die Seele, einmal gebannt in den Hades, keine Bedeutung mehr. Bedenkt man, wie es in vorhomerischer Zeit anders ge- wesen sein muss, wie es nach Homer so ganz anders wurde, so wird man wenigstens der Verwunderung Ausdruck geben 1) Schwerlich kennt Homer auch nur Traumorakel (die den Todten- orakeln sehr nahe stehen würden). Dass Il. A 63 die ἐγκοίμησις „wenig- stens angedeutet“ werde (wie Nägelsbach, Nachhom. Theol. 172 meint), ist nicht ganz gewiss. Der ὀνειροπόλος wird nicht sein ein absichtlich zum mantischen Schlaf sich hinlegender Priester, der ὑπὲρ ἑτέρων ὀνείρους ὁρᾷ, sondern eher ein ὀνειροκρίτης, ein Ausleger fremder, ungesucht gekommener Traumgesichte.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/50>, abgerufen am 28.03.2024.