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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Vollendung nöthigen uns anzunehmen, dass ihnen eine lange
und lebhafte Entwicklung poetischer Sage und Sagendichtung
voranliege; die Zustände, welche sie als bestehend darstellen
und voraussetzen, zeigen den langen Weg vom Wanderleben zur
städtischen Ansiedelung, vom patriarchalischen Regiment zum
Organismus der griechischen Polis als völlig durchmessen, und
wie die Reife der äusseren Entwicklung, so beweist die Reife
und Milde der Bildung, die Tiefe zugleich und Freiheit der
Weltvorstellung, die Klarheit und Einfachheit der Gedanken-
welt, die diese Gedichte widerspiegeln, dass vor Homer, um
bis zu Homer zu gelangen, das Griechenthum viel gedacht und
gelernt, mehr noch überwunden und abgethan haben muss.
Wie in der Kunst so in aller Cultur ist das einfach Angemessene
und wahrhaft Treffende nicht das Uranfängliche, sondern der
Gewinn langer Mühe. Es ist von vorne herein undenkbar,
dass auf dem langen Wege griechischer Entwicklung vor Homer
einzig die Religion, das Verhältniss des Menschen zu unsicht-
baren Gewalten, stets auf Einem Puncte beharrt sein sollte.
Nicht aus Vergleichung der Glaubensentwicklung bei stamm-
verwandten Völkern, auch nicht aus der Beachtung uralter-
thümlich scheinender Vorstellungen und Gebräuche des religiösen
Lebens griechischer Stämme, die uns in späterer Zeit begegnen,
wollen wir Aufschlüsse über die Cultgebräuche jener ältesten
griechischen Vorzeit zu gewinnen suchen, in welche eben Homers
Gedichte, sich mächtig vorschiebend, uns den Einblick ver-
sperren. Solche Hülfsmittel, an sich unverächtlich, dürfen nur
zur Unterstützung einer aus weniger trüglichen Betrachtungen
gewonnenen Einsicht verwendet werden. Unsere einzige zuver-
lässige Quelle der Kenntniss des vorhomerischen Griechenthums
ist Homer selbst. Wir dürfen, ja wir müssen auf eine Wand-
lung der Vorstellungen und Sitten schliessen, wenn in der sonst
so einheitlich abgeschlossenen homerischen Welt einzelne Vor-
gänge, Sitten, Redewendungen uns begegnen, die ihre zureichende
Erklärung nicht aus der im Homer sonst herrschenden, sondern
allein aus einer wesentlich anders gearteten, bei Homer sonst

Vollendung nöthigen uns anzunehmen, dass ihnen eine lange
und lebhafte Entwicklung poetischer Sage und Sagendichtung
voranliege; die Zustände, welche sie als bestehend darstellen
und voraussetzen, zeigen den langen Weg vom Wanderleben zur
städtischen Ansiedelung, vom patriarchalischen Regiment zum
Organismus der griechischen Polis als völlig durchmessen, und
wie die Reife der äusseren Entwicklung, so beweist die Reife
und Milde der Bildung, die Tiefe zugleich und Freiheit der
Weltvorstellung, die Klarheit und Einfachheit der Gedanken-
welt, die diese Gedichte widerspiegeln, dass vor Homer, um
bis zu Homer zu gelangen, das Griechenthum viel gedacht und
gelernt, mehr noch überwunden und abgethan haben muss.
Wie in der Kunst so in aller Cultur ist das einfach Angemessene
und wahrhaft Treffende nicht das Uranfängliche, sondern der
Gewinn langer Mühe. Es ist von vorne herein undenkbar,
dass auf dem langen Wege griechischer Entwicklung vor Homer
einzig die Religion, das Verhältniss des Menschen zu unsicht-
baren Gewalten, stets auf Einem Puncte beharrt sein sollte.
Nicht aus Vergleichung der Glaubensentwicklung bei stamm-
verwandten Völkern, auch nicht aus der Beachtung uralter-
thümlich scheinender Vorstellungen und Gebräuche des religiösen
Lebens griechischer Stämme, die uns in späterer Zeit begegnen,
wollen wir Aufschlüsse über die Cultgebräuche jener ältesten
griechischen Vorzeit zu gewinnen suchen, in welche eben Homers
Gedichte, sich mächtig vorschiebend, uns den Einblick ver-
sperren. Solche Hülfsmittel, an sich unverächtlich, dürfen nur
zur Unterstützung einer aus weniger trüglichen Betrachtungen
gewonnenen Einsicht verwendet werden. Unsere einzige zuver-
lässige Quelle der Kenntniss des vorhomerischen Griechenthums
ist Homer selbst. Wir dürfen, ja wir müssen auf eine Wand-
lung der Vorstellungen und Sitten schliessen, wenn in der sonst
so einheitlich abgeschlossenen homerischen Welt einzelne Vor-
gänge, Sitten, Redewendungen uns begegnen, die ihre zureichende
Erklärung nicht aus der im Homer sonst herrschenden, sondern
allein aus einer wesentlich anders gearteten, bei Homer sonst

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[13/0029] Vollendung nöthigen uns anzunehmen, dass ihnen eine lange und lebhafte Entwicklung poetischer Sage und Sagendichtung voranliege; die Zustände, welche sie als bestehend darstellen und voraussetzen, zeigen den langen Weg vom Wanderleben zur städtischen Ansiedelung, vom patriarchalischen Regiment zum Organismus der griechischen Polis als völlig durchmessen, und wie die Reife der äusseren Entwicklung, so beweist die Reife und Milde der Bildung, die Tiefe zugleich und Freiheit der Weltvorstellung, die Klarheit und Einfachheit der Gedanken- welt, die diese Gedichte widerspiegeln, dass vor Homer, um bis zu Homer zu gelangen, das Griechenthum viel gedacht und gelernt, mehr noch überwunden und abgethan haben muss. Wie in der Kunst so in aller Cultur ist das einfach Angemessene und wahrhaft Treffende nicht das Uranfängliche, sondern der Gewinn langer Mühe. Es ist von vorne herein undenkbar, dass auf dem langen Wege griechischer Entwicklung vor Homer einzig die Religion, das Verhältniss des Menschen zu unsicht- baren Gewalten, stets auf Einem Puncte beharrt sein sollte. Nicht aus Vergleichung der Glaubensentwicklung bei stamm- verwandten Völkern, auch nicht aus der Beachtung uralter- thümlich scheinender Vorstellungen und Gebräuche des religiösen Lebens griechischer Stämme, die uns in späterer Zeit begegnen, wollen wir Aufschlüsse über die Cultgebräuche jener ältesten griechischen Vorzeit zu gewinnen suchen, in welche eben Homers Gedichte, sich mächtig vorschiebend, uns den Einblick ver- sperren. Solche Hülfsmittel, an sich unverächtlich, dürfen nur zur Unterstützung einer aus weniger trüglichen Betrachtungen gewonnenen Einsicht verwendet werden. Unsere einzige zuver- lässige Quelle der Kenntniss des vorhomerischen Griechenthums ist Homer selbst. Wir dürfen, ja wir müssen auf eine Wand- lung der Vorstellungen und Sitten schliessen, wenn in der sonst so einheitlich abgeschlossenen homerischen Welt einzelne Vor- gänge, Sitten, Redewendungen uns begegnen, die ihre zureichende Erklärung nicht aus der im Homer sonst herrschenden, sondern allein aus einer wesentlich anders gearteten, bei Homer sonst

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/29>, abgerufen am 23.04.2024.