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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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Leben von keinen großen allgemeinen Ideen mehr ergriffen und
bewegt. Sie strebt weder nach Macht nach außen, noch nach
irgend einem Fortschritt nach innen: sie hat mit einem Worte
keine ihr Gesamtleben tief berührende, es ergreifende Ziele
und Zwecke vor Augen. Auf den ersten Blick freilich scheint
die Republik noch immer von lebensvoller Bewegung erfüllt.
Nach wie vor dauern die Partheikämpfe der mit einander ri-
valisirenden großen Familien fort und erhalten den
Hof wie das gesamte Reich, die Land- und Reichstage wie
die Gerichte und Tribunale in unaufhörlicher Gährung und
Unruhe. Allein wie geräuschvoll und laut auch dies Leben ist,
es hat keinen wahrhaft geschichtlichen Inhalt mehr. Denn es
ist aller höheren und edleren auf das Allgemeine gerichteten
Absichten vollkommen ledig und bar und geht vielmehr fast
ausschließlich von der Selbstsucht der großen Familien
aus, welche mit einander um Ämter, Einfluß und Macht
ringen, nicht um als Sieger im Kampf die Interessen
der Nation, sondern ihre eignen und die ihrer Clienten zu be-
friedigen und zu fördern. Für die Republik als Ganzes
bleibt es vollkommen ohne Frucht, ob die Radzivil, die Potocki
oder welche sonst von diesen Familien der "Herren" obenauf
kommen: ihre Zustände bleiben nach jedem Wechsel der Art
ganz dieselben, die sie bisher gewesen. Die Bewegung ist nur
äußerlich, scheinbar; in Wahrheit stagnirt das politische Leben
und depravirt sich naturgemäß in dieser Stagnation je länger
je mehr 1).

Und nicht nur in der politischen, auch in allen andern
Sphären des Lebens tritt uns dieselbe Erscheinung entgegen.
Die allgemein geistige Bildung der Nation wie ihre ganze

1) Ab und zu verknüpfen sich allerdings mit diesen Partheikämpfen
der großen Familien auch allgemeinere politische Tendenzen. Doch bleibt
es in diesen seltnen Fällen, wie z. B. bei dem Krongroßfeldherrn Joseph
Potocki, sehr fraglich, inwieweit das allgemeine oder das Familien-Inter-
esse die eigentliche Triebfeder war. Jedenfalls aber fand das erstere keinen
Anklang in der Nation, sondern vielmehr einen sehr entschiedenen Wider-
stand.

Leben von keinen großen allgemeinen Ideen mehr ergriffen und
bewegt. Sie ſtrebt weder nach Macht nach außen, noch nach
irgend einem Fortſchritt nach innen: ſie hat mit einem Worte
keine ihr Geſamtleben tief berührende, es ergreifende Ziele
und Zwecke vor Augen. Auf den erſten Blick freilich ſcheint
die Republik noch immer von lebensvoller Bewegung erfüllt.
Nach wie vor dauern die Partheikämpfe der mit einander ri-
valiſirenden großen Familien fort und erhalten den
Hof wie das geſamte Reich, die Land- und Reichstage wie
die Gerichte und Tribunale in unaufhörlicher Gährung und
Unruhe. Allein wie geräuſchvoll und laut auch dies Leben iſt,
es hat keinen wahrhaft geſchichtlichen Inhalt mehr. Denn es
iſt aller höheren und edleren auf das Allgemeine gerichteten
Abſichten vollkommen ledig und bar und geht vielmehr faſt
ausſchließlich von der Selbſtſucht der großen Familien
aus, welche mit einander um Ämter, Einfluß und Macht
ringen, nicht um als Sieger im Kampf die Intereſſen
der Nation, ſondern ihre eignen und die ihrer Clienten zu be-
friedigen und zu fördern. Für die Republik als Ganzes
bleibt es vollkommen ohne Frucht, ob die Radzivil, die Potocki
oder welche ſonſt von dieſen Familien der „Herren“ obenauf
kommen: ihre Zuſtände bleiben nach jedem Wechſel der Art
ganz dieſelben, die ſie bisher geweſen. Die Bewegung iſt nur
äußerlich, ſcheinbar; in Wahrheit ſtagnirt das politiſche Leben
und depravirt ſich naturgemäß in dieſer Stagnation je länger
je mehr 1).

Und nicht nur in der politiſchen, auch in allen andern
Sphären des Lebens tritt uns dieſelbe Erſcheinung entgegen.
Die allgemein geiſtige Bildung der Nation wie ihre ganze

1) Ab und zu verknüpfen ſich allerdings mit dieſen Partheikämpfen
der großen Familien auch allgemeinere politiſche Tendenzen. Doch bleibt
es in dieſen ſeltnen Fällen, wie z. B. bei dem Krongroßfeldherrn Joſeph
Potocki, ſehr fraglich, inwieweit das allgemeine oder das Familien-Inter-
eſſe die eigentliche Triebfeder war. Jedenfalls aber fand das erſtere keinen
Anklang in der Nation, ſondern vielmehr einen ſehr entſchiedenen Wider-
ſtand.
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[11/0025] Leben von keinen großen allgemeinen Ideen mehr ergriffen und bewegt. Sie ſtrebt weder nach Macht nach außen, noch nach irgend einem Fortſchritt nach innen: ſie hat mit einem Worte keine ihr Geſamtleben tief berührende, es ergreifende Ziele und Zwecke vor Augen. Auf den erſten Blick freilich ſcheint die Republik noch immer von lebensvoller Bewegung erfüllt. Nach wie vor dauern die Partheikämpfe der mit einander ri- valiſirenden großen Familien fort und erhalten den Hof wie das geſamte Reich, die Land- und Reichstage wie die Gerichte und Tribunale in unaufhörlicher Gährung und Unruhe. Allein wie geräuſchvoll und laut auch dies Leben iſt, es hat keinen wahrhaft geſchichtlichen Inhalt mehr. Denn es iſt aller höheren und edleren auf das Allgemeine gerichteten Abſichten vollkommen ledig und bar und geht vielmehr faſt ausſchließlich von der Selbſtſucht der großen Familien aus, welche mit einander um Ämter, Einfluß und Macht ringen, nicht um als Sieger im Kampf die Intereſſen der Nation, ſondern ihre eignen und die ihrer Clienten zu be- friedigen und zu fördern. Für die Republik als Ganzes bleibt es vollkommen ohne Frucht, ob die Radzivil, die Potocki oder welche ſonſt von dieſen Familien der „Herren“ obenauf kommen: ihre Zuſtände bleiben nach jedem Wechſel der Art ganz dieſelben, die ſie bisher geweſen. Die Bewegung iſt nur äußerlich, ſcheinbar; in Wahrheit ſtagnirt das politiſche Leben und depravirt ſich naturgemäß in dieſer Stagnation je länger je mehr 1). Und nicht nur in der politiſchen, auch in allen andern Sphären des Lebens tritt uns dieſelbe Erſcheinung entgegen. Die allgemein geiſtige Bildung der Nation wie ihre ganze 1) Ab und zu verknüpfen ſich allerdings mit dieſen Partheikämpfen der großen Familien auch allgemeinere politiſche Tendenzen. Doch bleibt es in dieſen ſeltnen Fällen, wie z. B. bei dem Krongroßfeldherrn Joſeph Potocki, ſehr fraglich, inwieweit das allgemeine oder das Familien-Inter- eſſe die eigentliche Triebfeder war. Jedenfalls aber fand das erſtere keinen Anklang in der Nation, ſondern vielmehr einen ſehr entſchiedenen Wider- ſtand.

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/25>, abgerufen am 29.03.2024.