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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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öffentlichem Gut, gewaltsamen Raub an dem Eigenthum
schwächerer Nachbarn für nichts zu achten: diese bot zu allen
Gewaltthaten und Verbrechen die dienstbare Hand, und übte
im kleinen, so weit sie konnte, was jene im großen 1). Ge-
wiß, es fehlte weder unter den "Herren" noch unter der
Schlachta an solchen, die sich entweder völlig rein, oder doch
von den äußersten Auswüchsen dieser Verderbniß frei erhielten:
namentlich unter dem mittleren Adel gab es Familien, die in
alter, man möchte fast sagen, patriarchalischer Einfachheit, Zucht
und Sitte lebten, aber sie hielten sich zurückgezogen und hatten
keinen Einfluß auf das öffentliche Leben. In diesem führte
weit überwiegend die Selbstsucht die Herrschaft, mit all den
Lastern im Bunde, deren fruchtbare Mutter sie ist.

Es waren jedoch diese politisch-socialen Verhältnisse zwischen
Krone, Herrn und Adel nicht allein, welche die allgemeine
Entsittlichung der Nation herbeiführten: eben so sehr und in
steter natürlicher Wechselwirkung mit jenen Verhältnissen
wirkte darauf die Richtung, der Character ein, welchen das
nationale Leben überhaupt seit dem 17. Jahrhundert je länger
je mehr entwickelte. Nach den gewaltigen Kämpfen und Schick-
salswechseln, welche die Nation im 17. Jahrhundert in dem
Ringen mit dem Protestantismus wie in den Kriegen mit
den Schweden, Russen und Kosacken durchgemacht hatte, trat
in ihr eine geistige Abspannung ein, deren Symptome bereits
während des nordischen Krieges sich zeigen. Seitdem ward ihr

1) Diese Characteristik habe ich fast wörtlich den Pamietniki
Karpinskiego
(Poznan 1844) entlehnt, welcher eine ganze Reihe
einzelner concreter Beispiele von dem gewaltthätigen Ubermuth der Herren
und der Dienstbarkeit und Unterwürfigkeit der Schlachta erzählt. Seine
Mittheilungen sind keineswegs etwa die einzigen der Art; ähnliche und
gleiche findet man in fast allen Denkwürdigkeiten aus dem 18. Jahrhun-
dert, und eben so allgemein kehren in ihnen fast einstimmig die bittersten
Klagen über das Treiben der "Herren" wieder, welchen nicht selten die
Hauptschuld an dem Verfall und Untergang Polens zugeschrieben wird.
Meiner Meinung nach nicht ganz mit Recht, denn die Schlachta trieb,
nach einem treffenden Ausdruck, wenn ich nicht irre, Kladzko's, das Ge-
schäft en detail, was die Herren en gros trieben.

öffentlichem Gut, gewaltſamen Raub an dem Eigenthum
ſchwächerer Nachbarn für nichts zu achten: dieſe bot zu allen
Gewaltthaten und Verbrechen die dienſtbare Hand, und übte
im kleinen, ſo weit ſie konnte, was jene im großen 1). Ge-
wiß, es fehlte weder unter den „Herren“ noch unter der
Schlachta an ſolchen, die ſich entweder völlig rein, oder doch
von den äußerſten Auswüchſen dieſer Verderbniß frei erhielten:
namentlich unter dem mittleren Adel gab es Familien, die in
alter, man möchte faſt ſagen, patriarchaliſcher Einfachheit, Zucht
und Sitte lebten, aber ſie hielten ſich zurückgezogen und hatten
keinen Einfluß auf das öffentliche Leben. In dieſem führte
weit überwiegend die Selbſtſucht die Herrſchaft, mit all den
Laſtern im Bunde, deren fruchtbare Mutter ſie iſt.

Es waren jedoch dieſe politiſch-ſocialen Verhältniſſe zwiſchen
Krone, Herrn und Adel nicht allein, welche die allgemeine
Entſittlichung der Nation herbeiführten: eben ſo ſehr und in
ſteter natürlicher Wechſelwirkung mit jenen Verhältniſſen
wirkte darauf die Richtung, der Character ein, welchen das
nationale Leben überhaupt ſeit dem 17. Jahrhundert je länger
je mehr entwickelte. Nach den gewaltigen Kämpfen und Schick-
ſalswechſeln, welche die Nation im 17. Jahrhundert in dem
Ringen mit dem Proteſtantismus wie in den Kriegen mit
den Schweden, Ruſſen und Koſacken durchgemacht hatte, trat
in ihr eine geiſtige Abſpannung ein, deren Symptome bereits
während des nordiſchen Krieges ſich zeigen. Seitdem ward ihr

1) Dieſe Characteriſtik habe ich faſt wörtlich den Pamiętniki
Karpinskiego
(Poznan 1844) entlehnt, welcher eine ganze Reihe
einzelner concreter Beiſpiele von dem gewaltthätigen Ubermuth der Herren
und der Dienſtbarkeit und Unterwürfigkeit der Schlachta erzählt. Seine
Mittheilungen ſind keineswegs etwa die einzigen der Art; ähnliche und
gleiche findet man in faſt allen Denkwürdigkeiten aus dem 18. Jahrhun-
dert, und eben ſo allgemein kehren in ihnen faſt einſtimmig die bitterſten
Klagen über das Treiben der „Herren“ wieder, welchen nicht ſelten die
Hauptſchuld an dem Verfall und Untergang Polens zugeſchrieben wird.
Meiner Meinung nach nicht ganz mit Recht, denn die Schlachta trieb,
nach einem treffenden Ausdruck, wenn ich nicht irre, Kladzko’s, das Ge-
ſchäft en detail, was die Herren en gros trieben.
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[10/0024] öffentlichem Gut, gewaltſamen Raub an dem Eigenthum ſchwächerer Nachbarn für nichts zu achten: dieſe bot zu allen Gewaltthaten und Verbrechen die dienſtbare Hand, und übte im kleinen, ſo weit ſie konnte, was jene im großen 1). Ge- wiß, es fehlte weder unter den „Herren“ noch unter der Schlachta an ſolchen, die ſich entweder völlig rein, oder doch von den äußerſten Auswüchſen dieſer Verderbniß frei erhielten: namentlich unter dem mittleren Adel gab es Familien, die in alter, man möchte faſt ſagen, patriarchaliſcher Einfachheit, Zucht und Sitte lebten, aber ſie hielten ſich zurückgezogen und hatten keinen Einfluß auf das öffentliche Leben. In dieſem führte weit überwiegend die Selbſtſucht die Herrſchaft, mit all den Laſtern im Bunde, deren fruchtbare Mutter ſie iſt. Es waren jedoch dieſe politiſch-ſocialen Verhältniſſe zwiſchen Krone, Herrn und Adel nicht allein, welche die allgemeine Entſittlichung der Nation herbeiführten: eben ſo ſehr und in ſteter natürlicher Wechſelwirkung mit jenen Verhältniſſen wirkte darauf die Richtung, der Character ein, welchen das nationale Leben überhaupt ſeit dem 17. Jahrhundert je länger je mehr entwickelte. Nach den gewaltigen Kämpfen und Schick- ſalswechſeln, welche die Nation im 17. Jahrhundert in dem Ringen mit dem Proteſtantismus wie in den Kriegen mit den Schweden, Ruſſen und Koſacken durchgemacht hatte, trat in ihr eine geiſtige Abſpannung ein, deren Symptome bereits während des nordiſchen Krieges ſich zeigen. Seitdem ward ihr 1) Dieſe Characteriſtik habe ich faſt wörtlich den Pamiętniki Karpinskiego (Poznan 1844) entlehnt, welcher eine ganze Reihe einzelner concreter Beiſpiele von dem gewaltthätigen Ubermuth der Herren und der Dienſtbarkeit und Unterwürfigkeit der Schlachta erzählt. Seine Mittheilungen ſind keineswegs etwa die einzigen der Art; ähnliche und gleiche findet man in faſt allen Denkwürdigkeiten aus dem 18. Jahrhun- dert, und eben ſo allgemein kehren in ihnen faſt einſtimmig die bitterſten Klagen über das Treiben der „Herren“ wieder, welchen nicht ſelten die Hauptſchuld an dem Verfall und Untergang Polens zugeſchrieben wird. Meiner Meinung nach nicht ganz mit Recht, denn die Schlachta trieb, nach einem treffenden Ausdruck, wenn ich nicht irre, Kladzko’s, das Ge- ſchäft en detail, was die Herren en gros trieben.

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/24>, abgerufen am 18.04.2024.