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Riemann, Bernhard: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. In: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1868), S. 133-150.

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B. RIEMANN,
schiedener Massverhältnisse fähig ist und der Raum also nur einen be-
sonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse bildet. Hiervon aber
ist eine nothwendige Folge, dass die Sätze der Geometrie sich nicht aus
allgemeinen Grössenbegriffen ableiten lassen, sondern dass diejenigen Ei-
genschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren drei-
fach ausgedehnten Grössen unterscheidet, nur aus der Erfahrung ent-
nommen werden können. Hieraus entsteht die Aufgabe, die einfachsten
Thatsachen aufzusuchen, aus denen sich die Massverhältnisse des Raumes
bestimmen lassen -- eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht
völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher That-
sachen angeben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Rau-
mes hinreichen; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von
Euklid zu Grunde gelegte. Diese Thatsachen sind wie alle Thatsachen
nicht nothwendig, sondern nur von empirischer Gewissheit, sie sind Hy-
pothesen; man kann also ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der
Grenzen der Beobachtung allerdings sehr gross ist, untersuchen und hie-
nach über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der
Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der
Seite des Unmessbarkleinen urtheilen.

I. Begriff einer nfach ausgedehnten Grösse.

Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die Ent-
wicklung des Begriffs mehrfach ausgedehnter Grössen zu lösen versuche,
glaube ich um so mehr auf eine nachsichtige Beurtheilung Anspruch
machen zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philosophischer Natur,
wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als in der Construction
liegen, wenig geübt bin und ich ausser einigen ganz kurzen Andeutun-
gen, welche Herr Geheimer Hofrath Gauss in der zweiten Abhandlung
über die biquadratischen Reste, in den Göttingenschen gelehrten Anzeigen
und in seiner Jubiläumsschrift darüber gegeben hat, und einigen philo-
sophischen Untersuchungen Herbart's, durchaus keine Vorarbeiten be-
nutzen konnte.

B. RIEMANN,
schiedener Massverhältnisse fähig ist und der Raum also nur einen be-
sonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse bildet. Hiervon aber
ist eine nothwendige Folge, dass die Sätze der Geometrie sich nicht aus
allgemeinen Grössenbegriffen ableiten lassen, sondern dass diejenigen Ei-
genschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren drei-
fach ausgedehnten Grössen unterscheidet, nur aus der Erfahrung ent-
nommen werden können. Hieraus entsteht die Aufgabe, die einfachsten
Thatsachen aufzusuchen, aus denen sich die Massverhältnisse des Raumes
bestimmen lassen — eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht
völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher That-
sachen angeben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Rau-
mes hinreichen; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von
Euklid zu Grunde gelegte. Diese Thatsachen sind wie alle Thatsachen
nicht nothwendig, sondern nur von empirischer Gewissheit, sie sind Hy-
pothesen; man kann also ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der
Grenzen der Beobachtung allerdings sehr gross ist, untersuchen und hie-
nach über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der
Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der
Seite des Unmessbarkleinen urtheilen.

I. Begriff einer nfach ausgedehnten Grösse.

Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die Ent-
wicklung des Begriffs mehrfach ausgedehnter Grössen zu lösen versuche,
glaube ich um so mehr auf eine nachsichtige Beurtheilung Anspruch
machen zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philosophischer Natur,
wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als in der Construction
liegen, wenig geübt bin und ich ausser einigen ganz kurzen Andeutun-
gen, welche Herr Geheimer Hofrath Gauss in der zweiten Abhandlung
über die biquadratischen Reste, in den Göttingenschen gelehrten Anzeigen
und in seiner Jubiläumsschrift darüber gegeben hat, und einigen philo-
sophischen Untersuchungen Herbart’s, durchaus keine Vorarbeiten be-
nutzen konnte.

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[134/0009] B. RIEMANN, schiedener Massverhältnisse fähig ist und der Raum also nur einen be- sonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse bildet. Hiervon aber ist eine nothwendige Folge, dass die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Grössenbegriffen ableiten lassen, sondern dass diejenigen Ei- genschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren drei- fach ausgedehnten Grössen unterscheidet, nur aus der Erfahrung ent- nommen werden können. Hieraus entsteht die Aufgabe, die einfachsten Thatsachen aufzusuchen, aus denen sich die Massverhältnisse des Raumes bestimmen lassen — eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher That- sachen angeben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Rau- mes hinreichen; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von Euklid zu Grunde gelegte. Diese Thatsachen sind wie alle Thatsachen nicht nothwendig, sondern nur von empirischer Gewissheit, sie sind Hy- pothesen; man kann also ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der Grenzen der Beobachtung allerdings sehr gross ist, untersuchen und hie- nach über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der Seite des Unmessbarkleinen urtheilen. I. Begriff einer nfach ausgedehnten Grösse. Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die Ent- wicklung des Begriffs mehrfach ausgedehnter Grössen zu lösen versuche, glaube ich um so mehr auf eine nachsichtige Beurtheilung Anspruch machen zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philosophischer Natur, wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als in der Construction liegen, wenig geübt bin und ich ausser einigen ganz kurzen Andeutun- gen, welche Herr Geheimer Hofrath Gauss in der zweiten Abhandlung über die biquadratischen Reste, in den Göttingenschen gelehrten Anzeigen und in seiner Jubiläumsschrift darüber gegeben hat, und einigen philo- sophischen Untersuchungen Herbart’s, durchaus keine Vorarbeiten be- nutzen konnte.

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Zitationshilfe: Riemann, Bernhard: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. In: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1868), S. 133-150, hier S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riemann_hypothesen_1867/9>, abgerufen am 19.03.2024.