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Riemann, Bernhard: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. In: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1868), S. 133-150.

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B. RIEMANN,
Raum eine unbegrenzte dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit sei, ist
eine Voraussetzung, welche bei jeder Auffassung der Aussenwelt ange-
wandt wird, nach welcher in jedem Augenblicke das Gebiet der wirk-
lichen Wahrnehmungen ergänzt und die möglichen Orte eines gesuchten
Gegenstandes construirt werden und welche sich bei diesen Anwendungen
fortwährend bestätigt. Die Unbegrenztheit des Raumes besitzt daher eine
grössere empirische Gewissheit, als irgend eine äussere Erfahrung.
Hieraus folgt aber die Unendlichkeit keineswegs; vielmehr würde der
Raum, wenn man Unabhängigkeit der Körper vom Ort voraussetzt, ihm
also ein constantes Krümmungsmass zuschreibt, nothwendig endlich sein,
so bald dieses Krümmungsmass einen noch so kleinen positiven Werth
hätte. Man würde, wenn man die in einem Flächenelement liegenden
Anfangsrichtungen zu kürzesten Linien verlängert, eine unbegrenzte
Fläche mit constantem positiven Krümmungsmass, also eine Fläche er-
halten, welche in einer ebenen dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit
die Gestalt einer Kugelfläche annehmen würde und welche folglich
endlich ist.

§. 3.

Die Fragen über das Unmessbargrosse sind für die Naturerklärung
müssige Fragen. Anders verhält es sich aber mit den Fragen über das
Unmessbarkleine. Auf der Genauigkeit, mit welcher wir die Erschei-
nungen in's Unendlichkleine verfolgen, beruht wesentlich die Erkenntniss
ihres Causalzusammenhangs. Die Fortschritte der letzten Jahrhunderte
in der Erkenntniss der mechanischen Natur sind fast allein bedingt durch
die Genauigkeit der Construction, welche durch die Erfindung der Ana-
lysis des Unendlichen und die von Archimed, Galliläi und Newton auf-
gefundenen einfachen Grundbegriffe, deren sich die heutige Physik be-
dient, möglich geworden ist. In den Naturwissenschaften aber, wo die
einfachen Grundbegriffe zu solchen Constructionen bis jetzt fehlen, ver-
folgt man, um den Causalzusammenhang zu erkennen, die Erscheinungen
in's räumlich Kleine, so weit es das Mikroskop nur gestattet. Die Fra-

B. RIEMANN,
Raum eine unbegrenzte dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit sei, ist
eine Voraussetzung, welche bei jeder Auffassung der Aussenwelt ange-
wandt wird, nach welcher in jedem Augenblicke das Gebiet der wirk-
lichen Wahrnehmungen ergänzt und die möglichen Orte eines gesuchten
Gegenstandes construirt werden und welche sich bei diesen Anwendungen
fortwährend bestätigt. Die Unbegrenztheit des Raumes besitzt daher eine
grössere empirische Gewissheit, als irgend eine äussere Erfahrung.
Hieraus folgt aber die Unendlichkeit keineswegs; vielmehr würde der
Raum, wenn man Unabhängigkeit der Körper vom Ort voraussetzt, ihm
also ein constantes Krümmungsmass zuschreibt, nothwendig endlich sein,
so bald dieses Krümmungsmass einen noch so kleinen positiven Werth
hätte. Man würde, wenn man die in einem Flächenelement liegenden
Anfangsrichtungen zu kürzesten Linien verlängert, eine unbegrenzte
Fläche mit constantem positiven Krümmungsmass, also eine Fläche er-
halten, welche in einer ebenen dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit
die Gestalt einer Kugelfläche annehmen würde und welche folglich
endlich ist.

§. 3.

Die Fragen über das Unmessbargrosse sind für die Naturerklärung
müssige Fragen. Anders verhält es sich aber mit den Fragen über das
Unmessbarkleine. Auf der Genauigkeit, mit welcher wir die Erschei-
nungen in’s Unendlichkleine verfolgen, beruht wesentlich die Erkenntniss
ihres Causalzusammenhangs. Die Fortschritte der letzten Jahrhunderte
in der Erkenntniss der mechanischen Natur sind fast allein bedingt durch
die Genauigkeit der Construction, welche durch die Erfindung der Ana-
lysis des Unendlichen und die von Archimed, Galliläi und Newton auf-
gefundenen einfachen Grundbegriffe, deren sich die heutige Physik be-
dient, möglich geworden ist. In den Naturwissenschaften aber, wo die
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folgt man, um den Causalzusammenhang zu erkennen, die Erscheinungen
in’s räumlich Kleine, so weit es das Mikroskop nur gestattet. Die Fra-

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[148/0023] B. RIEMANN, Raum eine unbegrenzte dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit sei, ist eine Voraussetzung, welche bei jeder Auffassung der Aussenwelt ange- wandt wird, nach welcher in jedem Augenblicke das Gebiet der wirk- lichen Wahrnehmungen ergänzt und die möglichen Orte eines gesuchten Gegenstandes construirt werden und welche sich bei diesen Anwendungen fortwährend bestätigt. Die Unbegrenztheit des Raumes besitzt daher eine grössere empirische Gewissheit, als irgend eine äussere Erfahrung. Hieraus folgt aber die Unendlichkeit keineswegs; vielmehr würde der Raum, wenn man Unabhängigkeit der Körper vom Ort voraussetzt, ihm also ein constantes Krümmungsmass zuschreibt, nothwendig endlich sein, so bald dieses Krümmungsmass einen noch so kleinen positiven Werth hätte. Man würde, wenn man die in einem Flächenelement liegenden Anfangsrichtungen zu kürzesten Linien verlängert, eine unbegrenzte Fläche mit constantem positiven Krümmungsmass, also eine Fläche er- halten, welche in einer ebenen dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit die Gestalt einer Kugelfläche annehmen würde und welche folglich endlich ist. §. 3. Die Fragen über das Unmessbargrosse sind für die Naturerklärung müssige Fragen. Anders verhält es sich aber mit den Fragen über das Unmessbarkleine. Auf der Genauigkeit, mit welcher wir die Erschei- nungen in’s Unendlichkleine verfolgen, beruht wesentlich die Erkenntniss ihres Causalzusammenhangs. Die Fortschritte der letzten Jahrhunderte in der Erkenntniss der mechanischen Natur sind fast allein bedingt durch die Genauigkeit der Construction, welche durch die Erfindung der Ana- lysis des Unendlichen und die von Archimed, Galliläi und Newton auf- gefundenen einfachen Grundbegriffe, deren sich die heutige Physik be- dient, möglich geworden ist. In den Naturwissenschaften aber, wo die einfachen Grundbegriffe zu solchen Constructionen bis jetzt fehlen, ver- folgt man, um den Causalzusammenhang zu erkennen, die Erscheinungen in’s räumlich Kleine, so weit es das Mikroskop nur gestattet. Die Fra-

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Zitationshilfe: Riemann, Bernhard: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. In: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1868), S. 133-150, hier S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riemann_hypothesen_1867/23>, abgerufen am 19.03.2024.