Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



me, welche sang, herkam. Man ließ zwar überall,
aber vergeblich nachsuchen.

Endlich begab sich die schöne Christine in ihr
Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter
hatte, die Beherrscherinn seiner Gedanken zu sehen,
richtete seinen Flug nach der nächsten ohngefähr sie-
ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er-
ner Stunde war er da, und entriß ein junges Mäd-
chen aus den Händen einiger Schwelger, die sie an-
gefallen hatten. Er brachte sie durch ein Fensier,
das sie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmäch-
tig, für Schrecken nach Hause; weil sie ihm bald
für einen Teufel, bald für einen Engel hielt. Dies
machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnügt
über diesen Versuch kehrt' er wieder zu seinem Va-
ter, gieng in seine Kammer und legte sich ins Bette.

Den andern Morgen untersucht' er seinen klei-
nen seidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung
setzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er
erschrack darüber, und brachte den ganzen Tag da-
mit zu, die erwähnte Hülfsfeder zu finden, die ver-
hindern sollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier,
herunter fiele und den Hals bräche, im Fall dieser
unentbehrliche Gurt ihm fehlte.

Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro-
ßes Lermen auf dem Schlosse, in der Stadt und in
der ganzen Nachbarschaft. Hundert Personen, die
nichts gesehen noch gehört hatten, versicherten gleich-
wohl, den Großvogel sehr genau bemerkt zu haben.
Das Gedicht, welches er gesungen hatte, ward wie-

derholt,



me, welche ſang, herkam. Man ließ zwar uͤberall,
aber vergeblich nachſuchen.

Endlich begab ſich die ſchoͤne Chriſtine in ihr
Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter
hatte, die Beherrſcherinn ſeiner Gedanken zu ſehen,
richtete ſeinen Flug nach der naͤchſten ohngefaͤhr ſie-
ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er-
ner Stunde war er da, und entriß ein junges Maͤd-
chen aus den Haͤnden einiger Schwelger, die ſie an-
gefallen hatten. Er brachte ſie durch ein Fenſier,
das ſie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmaͤch-
tig, fuͤr Schrecken nach Hauſe; weil ſie ihm bald
fuͤr einen Teufel, bald fuͤr einen Engel hielt. Dies
machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnuͤgt
uͤber dieſen Verſuch kehrt’ er wieder zu ſeinem Va-
ter, gieng in ſeine Kammer und legte ſich ins Bette.

Den andern Morgen unterſucht’ er ſeinen klei-
nen ſeidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung
ſetzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er
erſchrack daruͤber, und brachte den ganzen Tag da-
mit zu, die erwaͤhnte Huͤlfsfeder zu finden, die ver-
hindern ſollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier,
herunter fiele und den Hals braͤche, im Fall dieſer
unentbehrliche Gurt ihm fehlte.

Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro-
ßes Lermen auf dem Schloſſe, in der Stadt und in
der ganzen Nachbarſchaft. Hundert Perſonen, die
nichts geſehen noch gehoͤrt hatten, verſicherten gleich-
wohl, den Großvogel ſehr genau bemerkt zu haben.
Das Gedicht, welches er geſungen hatte, ward wie-

derholt,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0035" n="27"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
me, welche &#x017F;ang, herkam. Man ließ zwar u&#x0364;berall,<lb/>
aber vergeblich nach&#x017F;uchen.</p><lb/>
        <p>Endlich begab &#x017F;ich die &#x017F;cho&#x0364;ne Chri&#x017F;tine in ihr<lb/>
Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter<lb/>
hatte, die Beherr&#x017F;cherinn &#x017F;einer Gedanken zu &#x017F;ehen,<lb/>
richtete &#x017F;einen Flug nach der na&#x0364;ch&#x017F;ten ohngefa&#x0364;hr &#x017F;ie-<lb/>
ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er-<lb/>
ner Stunde war er da, und entriß ein junges Ma&#x0364;d-<lb/>
chen aus den Ha&#x0364;nden einiger Schwelger, die &#x017F;ie an-<lb/>
gefallen hatten. Er brachte &#x017F;ie durch ein Fen&#x017F;ier,<lb/>
das &#x017F;ie ihm angab; obgleich freylich halb ohnma&#x0364;ch-<lb/>
tig, fu&#x0364;r Schrecken nach Hau&#x017F;e; weil &#x017F;ie ihm bald<lb/>
fu&#x0364;r einen Teufel, bald fu&#x0364;r einen Engel hielt. Dies<lb/>
machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnu&#x0364;gt<lb/>
u&#x0364;ber die&#x017F;en Ver&#x017F;uch kehrt&#x2019; er wieder zu &#x017F;einem Va-<lb/>
ter, gieng in &#x017F;eine Kammer und legte &#x017F;ich ins Bette.</p><lb/>
        <p>Den andern Morgen unter&#x017F;ucht&#x2019; er &#x017F;einen klei-<lb/>
nen &#x017F;eidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung<lb/>
&#x017F;etzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er<lb/>
er&#x017F;chrack daru&#x0364;ber, und brachte den ganzen Tag da-<lb/>
mit zu, die erwa&#x0364;hnte Hu&#x0364;lfsfeder zu finden, die ver-<lb/>
hindern &#x017F;ollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier,<lb/>
herunter fiele und den Hals bra&#x0364;che, im Fall die&#x017F;er<lb/>
unentbehrliche Gurt ihm fehlte.</p><lb/>
        <p>Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro-<lb/>
ßes Lermen auf dem Schlo&#x017F;&#x017F;e, in der Stadt und in<lb/>
der ganzen Nachbar&#x017F;chaft. Hundert Per&#x017F;onen, die<lb/>
nichts ge&#x017F;ehen noch geho&#x0364;rt hatten, ver&#x017F;icherten gleich-<lb/>
wohl, den Großvogel &#x017F;ehr genau bemerkt zu haben.<lb/>
Das Gedicht, welches er ge&#x017F;ungen hatte, ward wie-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">derholt,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0035] me, welche ſang, herkam. Man ließ zwar uͤberall, aber vergeblich nachſuchen. Endlich begab ſich die ſchoͤne Chriſtine in ihr Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter hatte, die Beherrſcherinn ſeiner Gedanken zu ſehen, richtete ſeinen Flug nach der naͤchſten ohngefaͤhr ſie- ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er- ner Stunde war er da, und entriß ein junges Maͤd- chen aus den Haͤnden einiger Schwelger, die ſie an- gefallen hatten. Er brachte ſie durch ein Fenſier, das ſie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmaͤch- tig, fuͤr Schrecken nach Hauſe; weil ſie ihm bald fuͤr einen Teufel, bald fuͤr einen Engel hielt. Dies machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnuͤgt uͤber dieſen Verſuch kehrt’ er wieder zu ſeinem Va- ter, gieng in ſeine Kammer und legte ſich ins Bette. Den andern Morgen unterſucht’ er ſeinen klei- nen ſeidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung ſetzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er erſchrack daruͤber, und brachte den ganzen Tag da- mit zu, die erwaͤhnte Huͤlfsfeder zu finden, die ver- hindern ſollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier, herunter fiele und den Hals braͤche, im Fall dieſer unentbehrliche Gurt ihm fehlte. Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro- ßes Lermen auf dem Schloſſe, in der Stadt und in der ganzen Nachbarſchaft. Hundert Perſonen, die nichts geſehen noch gehoͤrt hatten, verſicherten gleich- wohl, den Großvogel ſehr genau bemerkt zu haben. Das Gedicht, welches er geſungen hatte, ward wie- derholt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/35
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/35>, abgerufen am 20.04.2024.