Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

des gegenseitigen Einflusses beider
Theile des Menschen aufgesucht, und
mit dem Heilgeschäfft in der engsten
Verbindung gesetzt sind
. Es scheint, sie
müsse nach eben dem Zuschnitt, wie die Arznei-
kunde, die auf den Körper wirkt, also als Phy-
siologie
und Pathologie der Seele, psy-
chische Heilmittellehre
und Therapie
geordnet werden. Die Physiologie betrachtet
die Seelenvermögen, wie sie in der Regel und
ihren Naturbestimmungen gemäss seyn müssen,
und dient zur Norm in der Reflection über ihren
kranken Zustand. Diesen behandelt die Patho-
logie
, deren Gebiet man nicht zu eng, etwan
auf blosse Geistesverkehrtheiten einschränken
darf. Denn die Seele leidet weit ausgedehnter,
je nachdem ihre Kräfte einzeln oder insgesammt
erhöht, erniedrigt, verstimmt, oder in ein fal-
sches Verhältniss gesetzt sind. Sie leidet im Alp,
dem Nachtwandeln, der Hypochondrie u. s. w.
an Zufällen, die mit der Verrücktheit nichts ge-
mein haben. In der allgemeinen Seelenpa-
thologie würde der Begriff der Seelenkrank-
heiten exponirt, und ihr Unterschied von mo-
ralischen Gebrechen und körperlichen Krank-
heiten festgesetzt. Dadurch werden zugleich
ihre Grenzen abgesteckt. Dann müsste in der-
selben der logische Eintheilungsgrund der See-
lenkrankheiten aufgesucht, und ihre generische
und specifische Differenz angegeben werden. Die

des gegenſeitigen Einfluſſes beider
Theile des Menſchen aufgeſucht, und
mit dem Heilgeſchäfft in der engſten
Verbindung geſetzt ſind
. Es ſcheint, ſie
müſſe nach eben dem Zuſchnitt, wie die Arznei-
kunde, die auf den Körper wirkt, alſo als Phy-
ſiologie
und Pathologie der Seele, pſy-
chiſche Heilmittellehre
und Therapie
geordnet werden. Die Phyſiologie betrachtet
die Seelenvermögen, wie ſie in der Regel und
ihren Naturbeſtimmungen gemäſs ſeyn müſſen,
und dient zur Norm in der Reflection über ihren
kranken Zuſtand. Dieſen behandelt die Patho-
logie
, deren Gebiet man nicht zu eng, etwan
auf bloſse Geiſtesverkehrtheiten einſchränken
darf. Denn die Seele leidet weit ausgedehnter,
je nachdem ihre Kräfte einzeln oder insgeſammt
erhöht, erniedrigt, verſtimmt, oder in ein fal-
ſches Verhältniſs geſetzt ſind. Sie leidet im Alp,
dem Nachtwandeln, der Hypochondrie u. ſ. w.
an Zufällen, die mit der Verrücktheit nichts ge-
mein haben. In der allgemeinen Seelenpa-
thologie würde der Begriff der Seelenkrank-
heiten exponirt, und ihr Unterſchied von mo-
raliſchen Gebrechen und körperlichen Krank-
heiten feſtgeſetzt. Dadurch werden zugleich
ihre Grenzen abgeſteckt. Dann müſste in der-
ſelben der logiſche Eintheilungsgrund der See-
lenkrankheiten aufgeſucht, und ihre generiſche
und ſpecifiſche Differenz angegeben werden. Die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0044" n="39"/>
des gegen&#x017F;eitigen Einflu&#x017F;&#x017F;es beider<lb/>
Theile des Men&#x017F;chen aufge&#x017F;ucht, und<lb/>
mit dem Heilge&#x017F;chäfft in der eng&#x017F;ten<lb/>
Verbindung ge&#x017F;etzt &#x017F;ind</hi>. Es &#x017F;cheint, &#x017F;ie<lb/>&#x017F;&#x017F;e nach eben dem Zu&#x017F;chnitt, wie die Arznei-<lb/>
kunde, die auf den Körper wirkt, al&#x017F;o als <hi rendition="#g">Phy-<lb/>
&#x017F;iologie</hi> und <hi rendition="#g">Pathologie</hi> der Seele, <hi rendition="#g">p&#x017F;y-<lb/>
chi&#x017F;che Heilmittellehre</hi> und <hi rendition="#g">Therapie</hi><lb/>
geordnet werden. Die <hi rendition="#g">Phy&#x017F;iologie</hi> betrachtet<lb/>
die Seelenvermögen, wie &#x017F;ie in der Regel und<lb/>
ihren Naturbe&#x017F;timmungen gemä&#x017F;s &#x017F;eyn mü&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und dient zur Norm in der Reflection über ihren<lb/>
kranken Zu&#x017F;tand. Die&#x017F;en behandelt die <hi rendition="#g">Patho-<lb/>
logie</hi>, deren Gebiet man nicht zu eng, etwan<lb/>
auf blo&#x017F;se Gei&#x017F;tesverkehrtheiten ein&#x017F;chränken<lb/>
darf. Denn die Seele leidet weit ausgedehnter,<lb/>
je nachdem ihre Kräfte einzeln oder insge&#x017F;ammt<lb/>
erhöht, erniedrigt, ver&#x017F;timmt, oder in ein fal-<lb/>
&#x017F;ches Verhältni&#x017F;s ge&#x017F;etzt &#x017F;ind. Sie leidet im Alp,<lb/>
dem Nachtwandeln, der Hypochondrie u. &#x017F;. w.<lb/>
an Zufällen, die mit der Verrücktheit nichts ge-<lb/>
mein haben. In der <hi rendition="#g">allgemeinen</hi> Seelenpa-<lb/>
thologie würde der Begriff der Seelenkrank-<lb/>
heiten exponirt, und ihr Unter&#x017F;chied von mo-<lb/>
rali&#x017F;chen Gebrechen und körperlichen Krank-<lb/>
heiten fe&#x017F;tge&#x017F;etzt. Dadurch werden zugleich<lb/>
ihre Grenzen abge&#x017F;teckt. Dann mü&#x017F;ste in der-<lb/>
&#x017F;elben der logi&#x017F;che Eintheilungsgrund der See-<lb/>
lenkrankheiten aufge&#x017F;ucht, und ihre generi&#x017F;che<lb/>
und &#x017F;pecifi&#x017F;che Differenz angegeben werden. Die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0044] des gegenſeitigen Einfluſſes beider Theile des Menſchen aufgeſucht, und mit dem Heilgeſchäfft in der engſten Verbindung geſetzt ſind. Es ſcheint, ſie müſſe nach eben dem Zuſchnitt, wie die Arznei- kunde, die auf den Körper wirkt, alſo als Phy- ſiologie und Pathologie der Seele, pſy- chiſche Heilmittellehre und Therapie geordnet werden. Die Phyſiologie betrachtet die Seelenvermögen, wie ſie in der Regel und ihren Naturbeſtimmungen gemäſs ſeyn müſſen, und dient zur Norm in der Reflection über ihren kranken Zuſtand. Dieſen behandelt die Patho- logie, deren Gebiet man nicht zu eng, etwan auf bloſse Geiſtesverkehrtheiten einſchränken darf. Denn die Seele leidet weit ausgedehnter, je nachdem ihre Kräfte einzeln oder insgeſammt erhöht, erniedrigt, verſtimmt, oder in ein fal- ſches Verhältniſs geſetzt ſind. Sie leidet im Alp, dem Nachtwandeln, der Hypochondrie u. ſ. w. an Zufällen, die mit der Verrücktheit nichts ge- mein haben. In der allgemeinen Seelenpa- thologie würde der Begriff der Seelenkrank- heiten exponirt, und ihr Unterſchied von mo- raliſchen Gebrechen und körperlichen Krank- heiten feſtgeſetzt. Dadurch werden zugleich ihre Grenzen abgeſteckt. Dann müſste in der- ſelben der logiſche Eintheilungsgrund der See- lenkrankheiten aufgeſucht, und ihre generiſche und ſpecifiſche Differenz angegeben werden. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/44
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/44>, abgerufen am 19.04.2024.