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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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ließ der Vogelsang hier doch keine Entschuldigung
gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mit¬
leidig und geduldig bei dem Wort blieb:

"Die arme Agathe!" --

Jawohl, wir hatten Alle unsere Noth mit der
"armen Agathe"; Jeder auf seine Weise. In der
besten die Frau Doktor Andres, in der schlimmsten
des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für
eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der
Vogelsang in allen seinen Nuancen, Schattirungen
und Abschattirungen um es herum gewesen wäre?
Welche Bilder und Gedanken steigen mir da auf,
wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den
mir Helene Trotzendorff, verehlichte Mungo aus
Berlin geschrieben hat, und der mich dazu gebracht
hat, diese Blätter mit meinen Lebenserinnerungen
zu füllen!

Während mir, Velten und ich, wie letzterer sich
ausdrückte, unsern Stiefel fortgingen, wuchs unsere
Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzessin
aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie
war klug und schön und wurde immer klüger und
immer schöner; aber sie hatte in Lumpen zu gehen,
im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf
bloßen Füßen Wasser zu holen für die Küche und
die goldenen Haare auf der Heide als Gänsemädchen

ließ der Vogelſang hier doch keine Entſchuldigung
gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mit¬
leidig und geduldig bei dem Wort blieb:

„Die arme Agathe!“ —

Jawohl, wir hatten Alle unſere Noth mit der
„armen Agathe“; Jeder auf ſeine Weiſe. In der
beſten die Frau Doktor Andres, in der ſchlimmſten
des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für
eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der
Vogelſang in allen ſeinen Nuancen, Schattirungen
und Abſchattirungen um es herum geweſen wäre?
Welche Bilder und Gedanken ſteigen mir da auf,
wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den
mir Helene Trotzendorff, verehlichte Mungo aus
Berlin geſchrieben hat, und der mich dazu gebracht
hat, dieſe Blätter mit meinen Lebenserinnerungen
zu füllen!

Während mir, Velten und ich, wie letzterer ſich
ausdrückte, unſern Stiefel fortgingen, wuchs unſere
Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzeſſin
aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie
war klug und ſchön und wurde immer klüger und
immer ſchöner; aber ſie hatte in Lumpen zu gehen,
im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf
bloßen Füßen Waſſer zu holen für die Küche und
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[54/0064] ließ der Vogelſang hier doch keine Entſchuldigung gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mit¬ leidig und geduldig bei dem Wort blieb: „Die arme Agathe!“ — Jawohl, wir hatten Alle unſere Noth mit der „armen Agathe“; Jeder auf ſeine Weiſe. In der beſten die Frau Doktor Andres, in der ſchlimmſten des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der Vogelſang in allen ſeinen Nuancen, Schattirungen und Abſchattirungen um es herum geweſen wäre? Welche Bilder und Gedanken ſteigen mir da auf, wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den mir Helene Trotzendorff, verehlichte Mungo aus Berlin geſchrieben hat, und der mich dazu gebracht hat, dieſe Blätter mit meinen Lebenserinnerungen zu füllen! Während mir, Velten und ich, wie letzterer ſich ausdrückte, unſern Stiefel fortgingen, wuchs unſere Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzeſſin aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie war klug und ſchön und wurde immer klüger und immer ſchöner; aber ſie hatte in Lumpen zu gehen, im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf bloßen Füßen Waſſer zu holen für die Küche und die goldenen Haare auf der Heide als Gänſemädchen

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/64>, abgerufen am 19.04.2024.