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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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zurechtgezogen hast. Nun weiß ich heute fast ebenso
gut wie Du in eurem alten Vogelsang und um
Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres
und Deinen Velten und alles Übrige Bescheid --
freilich, wenn ich auf einen Menschen gespannt sein
muß, so ist das Dein Freund Velten, aus dem Keiner
von euch je recht klug geworden zu sein scheint,
nimm das mir nicht übel. Und ganz derselbe wie
sonst nach eurer Beschreibung scheint er auch ge¬
blieben zu sein. Ich wäre in seiner Stelle jetzt schon
längst bei Dir -- noch dazu an solch einem bösen,
schmerzlichen, traurigen Tage wie heute!"

So plauderte sie und versuchte es immer von
Neuem mit dem linken Zeigefinger mir die Stirnfalten
wegzustreichen und mir über den "traurigen Tag"
leichter hinwegzuhelfen.

Es war ein wunderlicher gespenstischer Tag, ein
unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns
Zwei ließ, oder der Anweisung an der Vorsaalthür
zufolge lassen mußte. Der frische Hügel auf dem
Vogelsangkirchhofe war nicht Schuld daran: so etwas
drückt den Menschen nur in den Winkel und womöglich
einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewor¬
denen Großvaterstuhl, oder auch wohl auf ein niederes
Kinderschemelchen, drückt ihm die schwere Hand auf
die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt

zurechtgezogen haſt. Nun weiß ich heute faſt ebenſo
gut wie Du in eurem alten Vogelſang und um
Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres
und Deinen Velten und alles Übrige Beſcheid —
freilich, wenn ich auf einen Menſchen geſpannt ſein
muß, ſo iſt das Dein Freund Velten, aus dem Keiner
von euch je recht klug geworden zu ſein ſcheint,
nimm das mir nicht übel. Und ganz derſelbe wie
ſonſt nach eurer Beſchreibung ſcheint er auch ge¬
blieben zu ſein. Ich wäre in ſeiner Stelle jetzt ſchon
längſt bei Dir — noch dazu an ſolch einem böſen,
ſchmerzlichen, traurigen Tage wie heute!“

So plauderte ſie und verſuchte es immer von
Neuem mit dem linken Zeigefinger mir die Stirnfalten
wegzuſtreichen und mir über den „traurigen Tag“
leichter hinwegzuhelfen.

Es war ein wunderlicher geſpenſtiſcher Tag, ein
unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns
Zwei ließ, oder der Anweiſung an der Vorſaalthür
zufolge laſſen mußte. Der friſche Hügel auf dem
Vogelſangkirchhofe war nicht Schuld daran: ſo etwas
drückt den Menſchen nur in den Winkel und womöglich
einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewor¬
denen Großvaterſtuhl, oder auch wohl auf ein niederes
Kinderſchemelchen, drückt ihm die ſchwere Hand auf
die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt

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[215/0225] zurechtgezogen haſt. Nun weiß ich heute faſt ebenſo gut wie Du in eurem alten Vogelſang und um Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres und Deinen Velten und alles Übrige Beſcheid — freilich, wenn ich auf einen Menſchen geſpannt ſein muß, ſo iſt das Dein Freund Velten, aus dem Keiner von euch je recht klug geworden zu ſein ſcheint, nimm das mir nicht übel. Und ganz derſelbe wie ſonſt nach eurer Beſchreibung ſcheint er auch ge¬ blieben zu ſein. Ich wäre in ſeiner Stelle jetzt ſchon längſt bei Dir — noch dazu an ſolch einem böſen, ſchmerzlichen, traurigen Tage wie heute!“ So plauderte ſie und verſuchte es immer von Neuem mit dem linken Zeigefinger mir die Stirnfalten wegzuſtreichen und mir über den „traurigen Tag“ leichter hinwegzuhelfen. Es war ein wunderlicher geſpenſtiſcher Tag, ein unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns Zwei ließ, oder der Anweiſung an der Vorſaalthür zufolge laſſen mußte. Der friſche Hügel auf dem Vogelſangkirchhofe war nicht Schuld daran: ſo etwas drückt den Menſchen nur in den Winkel und womöglich einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewor¬ denen Großvaterſtuhl, oder auch wohl auf ein niederes Kinderſchemelchen, drückt ihm die ſchwere Hand auf die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/225>, abgerufen am 25.04.2024.