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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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doch ist es nur das eine Bildchen dort, das kleine
Lichtbild da über der Kommode, dessen liebe, lachende
Augen mir mein Altfrauenheim verwüstet und Alles
über- und durcheinander geschoben haben wie bei
einem Umzug oder nach einem Brande. Da -- lies
seinen Brief! Was er dazu thun kann, daß die alte
Frau im Vogelsang nicht ganz aus ihrer Fassung
kommt, das besorgt er natürlich auf seine alte Weise.
Unter kriegt ihn auch das nicht; aber man müßte
eben nicht zwischen den Zeilen lesen können, um sich
von ihm auf diese seine Weise unterkriegen zu
lassen."

Ach, wie diese beiden Leute bis in die feinsten
Nervenfädchen, bis in die flüchtigsten Seelen¬
stimmungen hinein sich nachzutasten, sich nachzu¬
fühlen wußten! Sie machten einander nichts weis,
und das war, ausnahmsweise, für sie ein großes
Glück: für andere, und leider die Mehrzahl der auf
dieser Erde sich näher und nächst Angehenden, wäre
es freilich das Gegentheil gewesen. Es ist nicht
immer das Behaglichste, wenn Zwei oder Mehrere
die zusammengehören, sich zu gut verstehen. Die
einzige Möglichkeit für ein wenigstens gedeihliches
Hüttenbauen und Zusammenwohnen liegt dann
einzig und allein in dem Sichaufeinanderverstehen.

doch iſt es nur das eine Bildchen dort, das kleine
Lichtbild da über der Kommode, deſſen liebe, lachende
Augen mir mein Altfrauenheim verwüſtet und Alles
über- und durcheinander geſchoben haben wie bei
einem Umzug oder nach einem Brande. Da — lies
ſeinen Brief! Was er dazu thun kann, daß die alte
Frau im Vogelſang nicht ganz aus ihrer Faſſung
kommt, das beſorgt er natürlich auf ſeine alte Weiſe.
Unter kriegt ihn auch das nicht; aber man müßte
eben nicht zwiſchen den Zeilen leſen können, um ſich
von ihm auf dieſe ſeine Weiſe unterkriegen zu
laſſen.“

Ach, wie dieſe beiden Leute bis in die feinſten
Nervenfädchen, bis in die flüchtigſten Seelen¬
ſtimmungen hinein ſich nachzutaſten, ſich nachzu¬
fühlen wußten! Sie machten einander nichts weis,
und das war, ausnahmsweiſe, für ſie ein großes
Glück: für andere, und leider die Mehrzahl der auf
dieſer Erde ſich näher und nächſt Angehenden, wäre
es freilich das Gegentheil geweſen. Es iſt nicht
immer das Behaglichſte, wenn Zwei oder Mehrere
die zuſammengehören, ſich zu gut verſtehen. Die
einzige Möglichkeit für ein wenigſtens gedeihliches
Hüttenbauen und Zuſammenwohnen liegt dann
einzig und allein in dem Sichaufeinanderverſtehen.

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[183/0193] doch iſt es nur das eine Bildchen dort, das kleine Lichtbild da über der Kommode, deſſen liebe, lachende Augen mir mein Altfrauenheim verwüſtet und Alles über- und durcheinander geſchoben haben wie bei einem Umzug oder nach einem Brande. Da — lies ſeinen Brief! Was er dazu thun kann, daß die alte Frau im Vogelſang nicht ganz aus ihrer Faſſung kommt, das beſorgt er natürlich auf ſeine alte Weiſe. Unter kriegt ihn auch das nicht; aber man müßte eben nicht zwiſchen den Zeilen leſen können, um ſich von ihm auf dieſe ſeine Weiſe unterkriegen zu laſſen.“ Ach, wie dieſe beiden Leute bis in die feinſten Nervenfädchen, bis in die flüchtigſten Seelen¬ ſtimmungen hinein ſich nachzutaſten, ſich nachzu¬ fühlen wußten! Sie machten einander nichts weis, und das war, ausnahmsweiſe, für ſie ein großes Glück: für andere, und leider die Mehrzahl der auf dieſer Erde ſich näher und nächſt Angehenden, wäre es freilich das Gegentheil geweſen. Es iſt nicht immer das Behaglichſte, wenn Zwei oder Mehrere die zuſammengehören, ſich zu gut verſtehen. Die einzige Möglichkeit für ein wenigſtens gedeihliches Hüttenbauen und Zuſammenwohnen liegt dann einzig und allein in dem Sichaufeinanderverſtehen.

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/193>, abgerufen am 19.04.2024.