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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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dem Pylades, dem Kastor oder dem Pollux, dem
David oder dem Jonathan die Cigarre der Rührung
wegen ausgeht, und ist es ausnahmsweise mal der
Fall, so ist der Bewegteste, und das ist fast immer
der Zurückbleibende, im Stande, den Scheidenden um
Feuer zu bitten. --

Es war diesmal nicht mehr die ganze Nachbar¬
schaft, welche diesem Scheidenden nach dem Bahnhof
das Geleit gegeben hatte. Meine greisen Eltern fühlten,
kopfschüttelnd, nicht die Verpflichtung dazu. "Es ist
doch zu sehr eine Narrenfahrt und ich bezweifle, daß
ich sowohl dem Jungen wie der Alten das für die
Gelegenheit gewünschte Gesicht ziehen kann," hatte
mein Vater gesagt; und meine Mutter hatte gemeint:
"Ich glaube auch nicht, daß Amalie dieser Aufmerk¬
samkeit und Antheilnahme von unserer Seite bedarf.
Hat sie sich jemals im Guten und im Bösen das Ge¬
ringste von uns sagen lassen? Sie haben eben Beide
immer ihren eigenen Kopf." --

Was bedeuteten diese Blätter, wenn ich nicht
wahr auf ihnen wäre? Im tiefsten Grunde war
ich vollständig der Meinung meiner Eltern -- so lange
sie das Wort hatten und Vernunft sprachen, und
verfiel ebenso gründlich immer von Neuem schon der
wortlosen Überredungskraft der zwei Anderen aus
der nächsten Nachbarschaft. Es genügte schon voll¬

dem Pylades, dem Kaſtor oder dem Pollux, dem
David oder dem Jonathan die Cigarre der Rührung
wegen ausgeht, und iſt es ausnahmsweiſe mal der
Fall, ſo iſt der Bewegteſte, und das iſt faſt immer
der Zurückbleibende, im Stande, den Scheidenden um
Feuer zu bitten. —

Es war diesmal nicht mehr die ganze Nachbar¬
ſchaft, welche dieſem Scheidenden nach dem Bahnhof
das Geleit gegeben hatte. Meine greiſen Eltern fühlten,
kopfſchüttelnd, nicht die Verpflichtung dazu. „Es iſt
doch zu ſehr eine Narrenfahrt und ich bezweifle, daß
ich ſowohl dem Jungen wie der Alten das für die
Gelegenheit gewünſchte Geſicht ziehen kann,“ hatte
mein Vater geſagt; und meine Mutter hatte gemeint:
„Ich glaube auch nicht, daß Amalie dieſer Aufmerk¬
ſamkeit und Antheilnahme von unſerer Seite bedarf.
Hat ſie ſich jemals im Guten und im Böſen das Ge¬
ringſte von uns ſagen laſſen? Sie haben eben Beide
immer ihren eigenen Kopf.“ —

Was bedeuteten dieſe Blätter, wenn ich nicht
wahr auf ihnen wäre? Im tiefſten Grunde war
ich vollſtändig der Meinung meiner Eltern — ſo lange
ſie das Wort hatten und Vernunft ſprachen, und
verfiel ebenſo gründlich immer von Neuem ſchon der
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[162/0172] dem Pylades, dem Kaſtor oder dem Pollux, dem David oder dem Jonathan die Cigarre der Rührung wegen ausgeht, und iſt es ausnahmsweiſe mal der Fall, ſo iſt der Bewegteſte, und das iſt faſt immer der Zurückbleibende, im Stande, den Scheidenden um Feuer zu bitten. — Es war diesmal nicht mehr die ganze Nachbar¬ ſchaft, welche dieſem Scheidenden nach dem Bahnhof das Geleit gegeben hatte. Meine greiſen Eltern fühlten, kopfſchüttelnd, nicht die Verpflichtung dazu. „Es iſt doch zu ſehr eine Narrenfahrt und ich bezweifle, daß ich ſowohl dem Jungen wie der Alten das für die Gelegenheit gewünſchte Geſicht ziehen kann,“ hatte mein Vater geſagt; und meine Mutter hatte gemeint: „Ich glaube auch nicht, daß Amalie dieſer Aufmerk¬ ſamkeit und Antheilnahme von unſerer Seite bedarf. Hat ſie ſich jemals im Guten und im Böſen das Ge¬ ringſte von uns ſagen laſſen? Sie haben eben Beide immer ihren eigenen Kopf.“ — Was bedeuteten dieſe Blätter, wenn ich nicht wahr auf ihnen wäre? Im tiefſten Grunde war ich vollſtändig der Meinung meiner Eltern — ſo lange ſie das Wort hatten und Vernunft ſprachen, und verfiel ebenſo gründlich immer von Neuem ſchon der wortloſen Überredungskraft der zwei Anderen aus der nächſten Nachbarſchaft. Es genügte ſchon voll¬

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/172>, abgerufen am 19.04.2024.