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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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und der Stadt Berlin schwingen zu dürfen! . . Krum¬
hardt. Dein Protokollführergesicht ist mir niemals so
sympathisch gewesen wie in diesem Augenblick! Wenn
Du dereinst Deinen Kindern von Deinem Jugend¬
freunde erzählst, so vergiß nicht, mit melancholischem
Kopfschütteln zu seiner Entschuldigung anzuführen:
Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel
hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die
Nase gezogen und zog ihn daran sich nach; -- so
wurde er zum Schneider und ging für die Wissen¬
schaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum
steht nicht umsonst da, und ich liege nicht ohne
Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelsang sitzt
meine Alte vor ihrer Korrespondenz mit Amerika,
und hier in der Tasche trage ich den letzten Brief
Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert
sich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach;
es ist keine Hilfe und Abwehr dagegen!"

Auch er stand jetzt auf den Füßen. Ich hatte
ihn nie so schön, stolz und grimmig gesehen. Er
hob wie drohend die gesunde rechte Faust zu dem
schicksalvollen Geäst über uns auf, zu der luftigen
Höhe, in der sie voreinst gehangen hatten, die zwei
Kinder aus dem Vogelsang, in zitternder, wimmernder
Todesangst und im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen
mit der Unmöglichkeit, Hilfe zu schaffen.

W. Raabe. Die Akten des Vogelsangs. 10

und der Stadt Berlin ſchwingen zu dürfen! . . Krum¬
hardt. Dein Protokollführergeſicht iſt mir niemals ſo
ſympathiſch geweſen wie in dieſem Augenblick! Wenn
Du dereinſt Deinen Kindern von Deinem Jugend¬
freunde erzählſt, ſo vergiß nicht, mit melancholiſchem
Kopfſchütteln zu ſeiner Entſchuldigung anzuführen:
Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel
hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die
Naſe gezogen und zog ihn daran ſich nach; — ſo
wurde er zum Schneider und ging für die Wiſſen¬
ſchaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum
ſteht nicht umſonſt da, und ich liege nicht ohne
Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelſang ſitzt
meine Alte vor ihrer Korreſpondenz mit Amerika,
und hier in der Taſche trage ich den letzten Brief
Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert
ſich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach;
es iſt keine Hilfe und Abwehr dagegen!“

Auch er ſtand jetzt auf den Füßen. Ich hatte
ihn nie ſo ſchön, ſtolz und grimmig geſehen. Er
hob wie drohend die geſunde rechte Fauſt zu dem
ſchickſalvollen Geäſt über uns auf, zu der luftigen
Höhe, in der ſie voreinſt gehangen hatten, die zwei
Kinder aus dem Vogelſang, in zitternder, wimmernder
Todesangſt und im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen
mit der Unmöglichkeit, Hilfe zu ſchaffen.

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[145/0155] und der Stadt Berlin ſchwingen zu dürfen! . . Krum¬ hardt. Dein Protokollführergeſicht iſt mir niemals ſo ſympathiſch geweſen wie in dieſem Augenblick! Wenn Du dereinſt Deinen Kindern von Deinem Jugend¬ freunde erzählſt, ſo vergiß nicht, mit melancholiſchem Kopfſchütteln zu ſeiner Entſchuldigung anzuführen: Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die Naſe gezogen und zog ihn daran ſich nach; — ſo wurde er zum Schneider und ging für die Wiſſen¬ ſchaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum ſteht nicht umſonſt da, und ich liege nicht ohne Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelſang ſitzt meine Alte vor ihrer Korreſpondenz mit Amerika, und hier in der Taſche trage ich den letzten Brief Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert ſich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach; es iſt keine Hilfe und Abwehr dagegen!“ Auch er ſtand jetzt auf den Füßen. Ich hatte ihn nie ſo ſchön, ſtolz und grimmig geſehen. Er hob wie drohend die geſunde rechte Fauſt zu dem ſchickſalvollen Geäſt über uns auf, zu der luftigen Höhe, in der ſie voreinſt gehangen hatten, die zwei Kinder aus dem Vogelſang, in zitternder, wimmernder Todesangſt und im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen mit der Unmöglichkeit, Hilfe zu ſchaffen. W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 10

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/155>, abgerufen am 28.03.2024.