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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
zur Kultur an der Grenze des Erlaubten angelangt, so wurde diese
Grenze thatsächlich überschritten von Jean Jacques Rousseau.
Während Haller und seine Gesinnungsgenossen ihre Kultur-
verachtung nur theoretisch zum Ausdrucke brachten, suchte der
grosse Genfer Philosoph mit Hintansetzung aller konventionellen
Rücksichten, ohne jede Berufsthätigkeit, nur dem Naturgenusse
und dem hierdurch gesteigerten Selbstgenusse zu leben. Dessen-
ungeachtet zehren wir heute noch von den Früchten, die Rousseau's
Eremitage auf der Peters-Insel im Bielersee gezeitigt hatte. Er
lehrte dem verkünstelten Geschlechte in den Städten, wie man die
Natur geniessen müsse, er stellte die richtige Ferienphilosophie
auf, eine Kunst, die erlernt sein will, und gegen die sich auch
heute noch so viele Menschen vergehen. Oder haben nicht die
Worte, die Rousseau seinem Helden Saint-Preux in der "Nouvelle
Heloise" in den Mund legt, noch gegenwärtig ihre volle Berech-
tigung?

"Die Bewohner von Paris, die auf's Land zu gehen glauben,
gehen in Wirklichkeit gar nicht dorthin, sie nehmen Paris mit
sich. Die Sänger, die Schöngeister, die Autoren, die Parasiten,
sie alle bilden ihr Gefolge. Ihre Tafel deckt sich wie in Paris,
sie essen zu derselben Stunde, man trägt ihnen dieselben Gerichte
in denselben Platten auf, sie treiben dieselben Dinge, ebenso gut
hätten sie zu Hause bleiben können. Denn so reich man auch
sein und soviel Sorgfalt man auch aufwenden mag, immer fühlt
man auf dem Lande eine gewisse Entbehrung, weil man doch nicht
ganz Paris mit sich nehmen kann. So kennen sie nur eine
Weise zu leben und leiden stets an Langweile."

Das Interesse für die Alpenwelt trat in eine neue Phase, als
in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts jene Gährung in
der deutschen Literatur entstand, die man als Sturm- und Drang-
periode bezeichnet. Das Losungswort jener Tage war Natur, und
was in Haller's Alpen noch als schmerzliche Sehnsucht erscheint,
wird nun zur stürmischen Forderung für Kunst und Leben. Auf
französischem Sprachgebiete haben insbesondere Buffon, Ber-
nardin de St. Pierre
und Chateaubriand zu Gunsten dieser Be-
wegung gewirkt, in Deutschland war ihr gewaltigster Vertreter
Wolfgang Goethe. Das erste bedeutende Werk des jungen
Olympiers, "Götz von Berlichingen", war ein Triumph der genialen
Natur gegenüber der Schablone der französischen Classicität, und
sein "Werther" trieb das Recht der Leidenschaft im Namen der Natur
auf die Spitze. Goethe hat die Alpen dreimal besucht, das erste

Zeitschrift, 1894. 7

Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
zur Kultur an der Grenze des Erlaubten angelangt, so wurde diese
Grenze thatsächlich überschritten von Jean Jacques Rousseau.
Während Haller und seine Gesinnungsgenossen ihre Kultur-
verachtung nur theoretisch zum Ausdrucke brachten, suchte der
grosse Genfer Philosoph mit Hintansetzung aller konventionellen
Rücksichten, ohne jede Berufsthätigkeit, nur dem Naturgenusse
und dem hierdurch gesteigerten Selbstgenusse zu leben. Dessen-
ungeachtet zehren wir heute noch von den Früchten, die Rousseau’s
Eremitage auf der Peters-Insel im Bielersee gezeitigt hatte. Er
lehrte dem verkünstelten Geschlechte in den Städten, wie man die
Natur geniessen müsse, er stellte die richtige Ferienphilosophie
auf, eine Kunst, die erlernt sein will, und gegen die sich auch
heute noch so viele Menschen vergehen. Oder haben nicht die
Worte, die Rousseau seinem Helden Saint-Preux in der „Nouvelle
Héloïse“ in den Mund legt, noch gegenwärtig ihre volle Berech-
tigung?

„Die Bewohner von Paris, die auf’s Land zu gehen glauben,
gehen in Wirklichkeit gar nicht dorthin, sie nehmen Paris mit
sich. Die Sänger, die Schöngeister, die Autoren, die Parasiten,
sie alle bilden ihr Gefolge. Ihre Tafel deckt sich wie in Paris,
sie essen zu derselben Stunde, man trägt ihnen dieselben Gerichte
in denselben Platten auf, sie treiben dieselben Dinge, ebenso gut
hätten sie zu Hause bleiben können. Denn so reich man auch
sein und soviel Sorgfalt man auch aufwenden mag, immer fühlt
man auf dem Lande eine gewisse Entbehrung, weil man doch nicht
ganz Paris mit sich nehmen kann. So kennen sie nur eine
Weise zu leben und leiden stets an Langweile.“

Das Interesse für die Alpenwelt trat in eine neue Phase, als
in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts jene Gährung in
der deutschen Literatur entstand, die man als Sturm- und Drang-
periode bezeichnet. Das Losungswort jener Tage war Natur, und
was in Haller’s Alpen noch als schmerzliche Sehnsucht erscheint,
wird nun zur stürmischen Forderung für Kunst und Leben. Auf
französischem Sprachgebiete haben insbesondere Buffon, Ber-
nardin de St. Pierre
und Chateaubriand zu Gunsten dieser Be-
wegung gewirkt, in Deutschland war ihr gewaltigster Vertreter
Wolfgang Goethe. Das erste bedeutende Werk des jungen
Olympiers, „Götz von Berlichingen“, war ein Triumph der genialen
Natur gegenüber der Schablone der französischen Classicität, und
sein „Werther“ trieb das Recht der Leidenschaft im Namen der Natur
auf die Spitze. Goethe hat die Alpen dreimal besucht, das erste

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[97/0003] Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus. zur Kultur an der Grenze des Erlaubten angelangt, so wurde diese Grenze thatsächlich überschritten von Jean Jacques Rousseau. Während Haller und seine Gesinnungsgenossen ihre Kultur- verachtung nur theoretisch zum Ausdrucke brachten, suchte der grosse Genfer Philosoph mit Hintansetzung aller konventionellen Rücksichten, ohne jede Berufsthätigkeit, nur dem Naturgenusse und dem hierdurch gesteigerten Selbstgenusse zu leben. Dessen- ungeachtet zehren wir heute noch von den Früchten, die Rousseau’s Eremitage auf der Peters-Insel im Bielersee gezeitigt hatte. Er lehrte dem verkünstelten Geschlechte in den Städten, wie man die Natur geniessen müsse, er stellte die richtige Ferienphilosophie auf, eine Kunst, die erlernt sein will, und gegen die sich auch heute noch so viele Menschen vergehen. Oder haben nicht die Worte, die Rousseau seinem Helden Saint-Preux in der „Nouvelle Héloïse“ in den Mund legt, noch gegenwärtig ihre volle Berech- tigung? „Die Bewohner von Paris, die auf’s Land zu gehen glauben, gehen in Wirklichkeit gar nicht dorthin, sie nehmen Paris mit sich. Die Sänger, die Schöngeister, die Autoren, die Parasiten, sie alle bilden ihr Gefolge. Ihre Tafel deckt sich wie in Paris, sie essen zu derselben Stunde, man trägt ihnen dieselben Gerichte in denselben Platten auf, sie treiben dieselben Dinge, ebenso gut hätten sie zu Hause bleiben können. Denn so reich man auch sein und soviel Sorgfalt man auch aufwenden mag, immer fühlt man auf dem Lande eine gewisse Entbehrung, weil man doch nicht ganz Paris mit sich nehmen kann. So kennen sie nur eine Weise zu leben und leiden stets an Langweile.“ Das Interesse für die Alpenwelt trat in eine neue Phase, als in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts jene Gährung in der deutschen Literatur entstand, die man als Sturm- und Drang- periode bezeichnet. Das Losungswort jener Tage war Natur, und was in Haller’s Alpen noch als schmerzliche Sehnsucht erscheint, wird nun zur stürmischen Forderung für Kunst und Leben. Auf französischem Sprachgebiete haben insbesondere Buffon, Ber- nardin de St. Pierre und Chateaubriand zu Gunsten dieser Be- wegung gewirkt, in Deutschland war ihr gewaltigster Vertreter Wolfgang Goethe. Das erste bedeutende Werk des jungen Olympiers, „Götz von Berlichingen“, war ein Triumph der genialen Natur gegenüber der Schablone der französischen Classicität, und sein „Werther“ trieb das Recht der Leidenschaft im Namen der Natur auf die Spitze. Goethe hat die Alpen dreimal besucht, das erste Zeitschrift, 1894. 7

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/3>, abgerufen am 24.04.2024.