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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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Die Geschichte der Missbildungen allein liefert brauchbare
Momente. Als Beispiel führe ich einen von Ollivier mitgetheil¬
ten, und mit bemerkenswerther Gründlichkeit berichteten Fall
im Auszuge an. (Traite de la moelle epiniere. Tom. I. ed. 2.
p. 155.)

Perrine Vivieu, 40 Jahre alt, gebar zwei Kinder, deren
eines ein Acephalus weiblichen Geschlechts war. Derselbe war
übrigens wohl gebildet und vollkommen entwickelt. Seine
Augen waren stets geschlossen; er stiess heftiges Geschrei aus,
welches man leicht beruhigte, wenn man den Finger in seinen
Mund brachte; er saugte alsdann daran zu wiederholten Malen.
Er bewegte seine Glieder mit hinlänglicher Kraft und erfasste
die Körper, welche man in seine Hände legte.

Drei Stunden nach der Geburt wurden Füsse und Hände
violet und kalt; die Respiration beschleunigt; die Bewegungen
des Rückenmarkes fuhren fort und folgten jeder der tiefen und
langen Inspirationen, die er ausführte. Die Schreie wurden
schwächer und weniger häufig.

Die Kälte dehnte sich allmälig über Extremitäten und Rumpf
aus; die Respiration geschah in immer längeren Intervallen und
wurde convulsivisch. Dieser Zustand dauerte acht Stunden.
Indem die bemerkten Erscheinungen zunahmen und Convulsio¬
nen hinzugetreten waren, starb der Acephalus in einem Zu¬
stande von Asphyxie. Er hatte im Ganzen zwanzig Stunden
nach der Geburt gelebt.

Die Section ergab, dass das Rückenmark gesund war, Oben
aber sofort in desorganisirte Massen überging, aus welchen in¬
dessen vermöge der noch vorhandenen Spuren von Hirnnerven
zu schliessen war, dass das Gehirn früher durch pathologische
Processe verwüstet worden.

Marshall Hall (a. a. O. p. 21) erzählt einen ähnlichen Fall
aus eigner Erfahrung:

"Es begegnete mir vor drei Jahren, als ich die Enthirnung
durch die vordere Fontanelle vornahm, dass das Kind, welches
zehn Minuten nach der Operation geboren wurde, tief aufath¬

Die Geschichte der Missbildungen allein liefert brauchbare
Momente. Als Beispiel führe ich einen von Ollivier mitgetheil¬
ten, und mit bemerkenswerther Gründlichkeit berichteten Fall
im Auszuge an. (Traité de la moëlle épinière. Tom. I. éd. 2.
p. 155.)

Perrine Vivieu, 40 Jahre alt, gebar zwei Kinder, deren
eines ein Acephalus weiblichen Geschlechts war. Derselbe war
übrigens wohl gebildet und vollkommen entwickelt. Seine
Augen waren stets geschlossen; er stiess heftiges Geschrei aus,
welches man leicht beruhigte, wenn man den Finger in seinen
Mund brachte; er saugte alsdann daran zu wiederholten Malen.
Er bewegte seine Glieder mit hinlänglicher Kraft und erfasste
die Körper, welche man in seine Hände legte.

Drei Stunden nach der Geburt wurden Füsse und Hände
violet und kalt; die Respiration beschleunigt; die Bewegungen
des Rückenmarkes fuhren fort und folgten jeder der tiefen und
langen Inspirationen, die er ausführte. Die Schreie wurden
schwächer und weniger häufig.

Die Kälte dehnte sich allmälig über Extremitäten und Rumpf
aus; die Respiration geschah in immer längeren Intervallen und
wurde convulsivisch. Dieser Zustand dauerte acht Stunden.
Indem die bemerkten Erscheinungen zunahmen und Convulsio¬
nen hinzugetreten waren, starb der Acephalus in einem Zu¬
stande von Asphyxie. Er hatte im Ganzen zwanzig Stunden
nach der Geburt gelebt.

Die Section ergab, dass das Rückenmark gesund war, Oben
aber sofort in desorganisirte Massen überging, aus welchen in¬
dessen vermöge der noch vorhandenen Spuren von Hirnnerven
zu schliessen war, dass das Gehirn früher durch pathologische
Processe verwüstet worden.

Marshall Hall (a. a. O. p. 21) erzählt einen ähnlichen Fall
aus eigner Erfahrung:

„Es begegnete mir vor drei Jahren, als ich die Enthirnung
durch die vordere Fontanelle vornahm, dass das Kind, welches
zehn Minuten nach der Operation geboren wurde, tief aufath¬

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[28/0050] Die Geschichte der Missbildungen allein liefert brauchbare Momente. Als Beispiel führe ich einen von Ollivier mitgetheil¬ ten, und mit bemerkenswerther Gründlichkeit berichteten Fall im Auszuge an. (Traité de la moëlle épinière. Tom. I. éd. 2. p. 155.) Perrine Vivieu, 40 Jahre alt, gebar zwei Kinder, deren eines ein Acephalus weiblichen Geschlechts war. Derselbe war übrigens wohl gebildet und vollkommen entwickelt. Seine Augen waren stets geschlossen; er stiess heftiges Geschrei aus, welches man leicht beruhigte, wenn man den Finger in seinen Mund brachte; er saugte alsdann daran zu wiederholten Malen. Er bewegte seine Glieder mit hinlänglicher Kraft und erfasste die Körper, welche man in seine Hände legte. Drei Stunden nach der Geburt wurden Füsse und Hände violet und kalt; die Respiration beschleunigt; die Bewegungen des Rückenmarkes fuhren fort und folgten jeder der tiefen und langen Inspirationen, die er ausführte. Die Schreie wurden schwächer und weniger häufig. Die Kälte dehnte sich allmälig über Extremitäten und Rumpf aus; die Respiration geschah in immer längeren Intervallen und wurde convulsivisch. Dieser Zustand dauerte acht Stunden. Indem die bemerkten Erscheinungen zunahmen und Convulsio¬ nen hinzugetreten waren, starb der Acephalus in einem Zu¬ stande von Asphyxie. Er hatte im Ganzen zwanzig Stunden nach der Geburt gelebt. Die Section ergab, dass das Rückenmark gesund war, Oben aber sofort in desorganisirte Massen überging, aus welchen in¬ dessen vermöge der noch vorhandenen Spuren von Hirnnerven zu schliessen war, dass das Gehirn früher durch pathologische Processe verwüstet worden. Marshall Hall (a. a. O. p. 21) erzählt einen ähnlichen Fall aus eigner Erfahrung: „Es begegnete mir vor drei Jahren, als ich die Enthirnung durch die vordere Fontanelle vornahm, dass das Kind, welches zehn Minuten nach der Operation geboren wurde, tief aufath¬

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/50>, abgerufen am 18.04.2024.