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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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Es ist hier nicht speziell der Physiologe, nicht speziell der
vergleichende Anatom, welcher uns die Ehrfurcht abnöthigt, son¬
dern es ist die hohe Weisheit eines die Verhältnisse in ihrer
Totalität und Tiefe erfassenden Denkers, der selbst da, wo ihm
die Beweise fehlen, getragen durch das Genie, manche Schleier
lüftet und Licht in manches Dunkel bringt.

Der durch die Epoche machende Entdeckung von 1811 des
Engländers Charles Bell gebotene reine und edle Stoff ist von
Marshall Hall zur Bearbeitung des Reflexprozesses missbraucht,
wie die besseren Gedanken des Sokrates in manchen seiner
Schüler zur Karrikatur verzerrt sind.

Dieser Marshall Hall trat im Anfange der dreissiger Jahre
mit einer Lehre auf, die er eine neue nennt, und der er aus
eigenem Witz den Namen "Reflexion" beigelegt zu haben vor¬
giebt. Weiss denn Marshall Hall nicht, dass bereits Prochaska
diesen Ausdruck gebraucht? Er nannte nun die Erregung einer
Bewegungsfaser durch und nach Erregung einer Gefühlsfaser
unter Vermittlung des Centralorganes einen Reflex. Auf un¬
glaublich heitere Weise ist er bemüht, Beweise aufzustellen, die
darthun sollen, dass bei diesen Acten die Empfindung nicht be¬
theiligt sei und improvisirt deshalb ex abrupto ein excito-moto¬
risches Nervensystem, das eigens für die "Reflexfunction" be¬
stimmt sein soll. Johannes Müller hatte zu gleicher Zeit in
Deutschland das Prinzip bearbeitet, ohne die excito-motorische
Fasernmasse anzunehmen. Auch er machte damals die Reflexion
nicht von Empfindung abhängig und sprach dem Rückenmark
die sensorische Function ab. Marshall Hall hat sich Grain¬
ger
angeschlossen. (Marshall Hall, Abhandlungen über das
Nervensystem. Deutsch von Kürschner. -- Grainger, Ob¬
servations on the structure and functions of the spinal cord.
Solly, On the brain and spinal marrow.)

Die deutschen Physiologen haben sich Johannes Müller an¬
geschlossen und die Reflexlehre weiter verbildet, aber nicht
ausgebildet. (Kürschner, Nachträge und Ergänzungen zu der
Uebersetzung von Marshall Hall's Abhandlungen. Marburg 1840.

Es ist hier nicht speziell der Physiologe, nicht speziell der
vergleichende Anatom, welcher uns die Ehrfurcht abnöthigt, son¬
dern es ist die hohe Weisheit eines die Verhältnisse in ihrer
Totalität und Tiefe erfassenden Denkers, der selbst da, wo ihm
die Beweise fehlen, getragen durch das Genie, manche Schleier
lüftet und Licht in manches Dunkel bringt.

Der durch die Epoche machende Entdeckung von 1811 des
Engländers Charles Bell gebotene reine und edle Stoff ist von
Marshall Hall zur Bearbeitung des Reflexprozesses missbraucht,
wie die besseren Gedanken des Sokrates in manchen seiner
Schüler zur Karrikatur verzerrt sind.

Dieser Marshall Hall trat im Anfange der dreissiger Jahre
mit einer Lehre auf, die er eine neue nennt, und der er aus
eigenem Witz den Namen „Reflexion“ beigelegt zu haben vor¬
giebt. Weiss denn Marshall Hall nicht, dass bereits Prochaska
diesen Ausdruck gebraucht? Er nannte nun die Erregung einer
Bewegungsfaser durch und nach Erregung einer Gefühlsfaser
unter Vermittlung des Centralorganes einen Reflex. Auf un¬
glaublich heitere Weise ist er bemüht, Beweise aufzustellen, die
darthun sollen, dass bei diesen Acten die Empfindung nicht be¬
theiligt sei und improvisirt deshalb ex abrupto ein excito-moto¬
risches Nervensystem, das eigens für die „Reflexfunction“ be¬
stimmt sein soll. Johannes Müller hatte zu gleicher Zeit in
Deutschland das Prinzip bearbeitet, ohne die excito-motorische
Fasernmasse anzunehmen. Auch er machte damals die Reflexion
nicht von Empfindung abhängig und sprach dem Rückenmark
die sensorische Function ab. Marshall Hall hat sich Grain¬
ger
angeschlossen. (Marshall Hall, Abhandlungen über das
Nervensystem. Deutsch von Kürschner. — Grainger, Ob¬
servations on the structure and functions of the spinal cord.
Solly, On the brain and spinal marrow.)

Die deutschen Physiologen haben sich Johannes Müller an¬
geschlossen und die Reflexlehre weiter verbildet, aber nicht
ausgebildet. (Kürschner, Nachträge und Ergänzungen zu der
Uebersetzung von Marshall Hall's Abhandlungen. Marburg 1840.

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[13/0035] Es ist hier nicht speziell der Physiologe, nicht speziell der vergleichende Anatom, welcher uns die Ehrfurcht abnöthigt, son¬ dern es ist die hohe Weisheit eines die Verhältnisse in ihrer Totalität und Tiefe erfassenden Denkers, der selbst da, wo ihm die Beweise fehlen, getragen durch das Genie, manche Schleier lüftet und Licht in manches Dunkel bringt. Der durch die Epoche machende Entdeckung von 1811 des Engländers Charles Bell gebotene reine und edle Stoff ist von Marshall Hall zur Bearbeitung des Reflexprozesses missbraucht, wie die besseren Gedanken des Sokrates in manchen seiner Schüler zur Karrikatur verzerrt sind. Dieser Marshall Hall trat im Anfange der dreissiger Jahre mit einer Lehre auf, die er eine neue nennt, und der er aus eigenem Witz den Namen „Reflexion“ beigelegt zu haben vor¬ giebt. Weiss denn Marshall Hall nicht, dass bereits Prochaska diesen Ausdruck gebraucht? Er nannte nun die Erregung einer Bewegungsfaser durch und nach Erregung einer Gefühlsfaser unter Vermittlung des Centralorganes einen Reflex. Auf un¬ glaublich heitere Weise ist er bemüht, Beweise aufzustellen, die darthun sollen, dass bei diesen Acten die Empfindung nicht be¬ theiligt sei und improvisirt deshalb ex abrupto ein excito-moto¬ risches Nervensystem, das eigens für die „Reflexfunction“ be¬ stimmt sein soll. Johannes Müller hatte zu gleicher Zeit in Deutschland das Prinzip bearbeitet, ohne die excito-motorische Fasernmasse anzunehmen. Auch er machte damals die Reflexion nicht von Empfindung abhängig und sprach dem Rückenmark die sensorische Function ab. Marshall Hall hat sich Grain¬ ger angeschlossen. (Marshall Hall, Abhandlungen über das Nervensystem. Deutsch von Kürschner. — Grainger, Ob¬ servations on the structure and functions of the spinal cord. Solly, On the brain and spinal marrow.) Die deutschen Physiologen haben sich Johannes Müller an¬ geschlossen und die Reflexlehre weiter verbildet, aber nicht ausgebildet. (Kürschner, Nachträge und Ergänzungen zu der Uebersetzung von Marshall Hall's Abhandlungen. Marburg 1840.

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/35>, abgerufen am 29.03.2024.