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Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

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man, durch den Werth der Sache veranlaßt, allen Nachdruck auf
die erste Seite und setzt diese im sinnlichen Hang der Menschen¬
natur unmittelbar identisch mit der zweiten, so gibt dieß den
bekannten fanatischen Eroberungsruf eines sozusagen kirchlichen
Chauvinismus: "Gott will es!", womit so vielfach nur der liebe
Eigenwille sich verbrämt. Die eigene Ausprägungsform gilt um
des (wenn es gut geht noch vorhandenen) Gehalts willen für die
allein vollwichtige, für welche man rücksichtslos überall die An¬
erkennung fordert oder "in Dei gloriam" zu erzwingen sucht.
Was wollen solchem, in der Idee erhabenen Streben gegenüber
Kleinigkeiten wie Nationalgrenzen heißen, als ob sich nicht auch
das Himmelszelt gleichmäßig über Alle spannte!

Oder aber hält man sich wohl frei davon, das Sinnlich¬
sichtbare für die mehr oder weniger angemessene Gegenwart des
Unsichtbaren zu halten; allein nun wendet man sich schwärmerisch
idealen und übergeistigen Sinnes ganz von der irrationalen oder
bösen Erscheinungswelt ab, um nur in jenen Höhen zu leben und
zu weben. Auch für diesen Sinn hat die Erde als "Jammerthal"
wenig Bedeutung und Reiz mehr. Der Staat (und am Ende fast
auch die zeitliche Kirche) ist ein nothwendiges Uebel lediglich um der
Bösen willen; das Vaterland auf dieser Welt (und die ecclesia visi¬
bis
) ist eine wenigsagende Durchgangsstation zur wahren Heimath.
Wenn dieser Vorwurf unerachtet materialer mustergültiger Loyali¬
tät (statt moderner "Loyolität") bekanntlich schon die erste Christen¬
gemeinde traf, so dürfen wir nicht vergessen, wie das verwesende
heidnische Alterthum ringsumher Vieles zu diesem platonisch-christ¬
lichen Idealismus, dieser ascetischen Weltflucht (Phaedo!) beitrug.

Anders könnte sich die Sache aber doch in der neuen christ¬
lichen Zeit stellen. Trotz all der bekannten unberechtigten wie be¬
rechtigten Vorwürfe sind die Staaten wenigstens sachlich und in
ihren Einrichtungen tief vom Christenthum durchdrungen; der Titel
"Welt" trifft sie beim Licht betrachtet nicht viel mehr, als er auch

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man, durch den Werth der Sache veranlaßt, allen Nachdruck auf
die erſte Seite und ſetzt dieſe im ſinnlichen Hang der Menſchen¬
natur unmittelbar identiſch mit der zweiten, ſo gibt dieß den
bekannten fanatiſchen Eroberungsruf eines ſozuſagen kirchlichen
Chauvinismus: „Gott will es!“, womit ſo vielfach nur der liebe
Eigenwille ſich verbrämt. Die eigene Ausprägungsform gilt um
des (wenn es gut geht noch vorhandenen) Gehalts willen für die
allein vollwichtige, für welche man rückſichtslos überall die An¬
erkennung fordert oder »in Dei gloriam« zu erzwingen ſucht.
Was wollen ſolchem, in der Idee erhabenen Streben gegenüber
Kleinigkeiten wie Nationalgrenzen heißen, als ob ſich nicht auch
das Himmelszelt gleichmäßig über Alle ſpannte!

Oder aber hält man ſich wohl frei davon, das Sinnlich¬
ſichtbare für die mehr oder weniger angemeſſene Gegenwart des
Unſichtbaren zu halten; allein nun wendet man ſich ſchwärmeriſch
idealen und übergeiſtigen Sinnes ganz von der irrationalen oder
böſen Erſcheinungswelt ab, um nur in jenen Höhen zu leben und
zu weben. Auch für dieſen Sinn hat die Erde als „Jammerthal“
wenig Bedeutung und Reiz mehr. Der Staat (und am Ende faſt
auch die zeitliche Kirche) iſt ein nothwendiges Uebel lediglich um der
Böſen willen; das Vaterland auf dieſer Welt (und die ecclesia visi¬
bis
) iſt eine wenigſagende Durchgangsſtation zur wahren Heimath.
Wenn dieſer Vorwurf unerachtet materialer muſtergültiger Loyali¬
tät (ſtatt moderner „Loyolität“) bekanntlich ſchon die erſte Chriſten¬
gemeinde traf, ſo dürfen wir nicht vergeſſen, wie das verweſende
heidniſche Alterthum ringsumher Vieles zu dieſem platoniſch-chriſt¬
lichen Idealismus, dieſer ascetiſchen Weltflucht (Phaedo!) beitrug.

Anders könnte ſich die Sache aber doch in der neuen chriſt¬
lichen Zeit ſtellen. Trotz all der bekannten unberechtigten wie be¬
rechtigten Vorwürfe ſind die Staaten wenigſtens ſachlich und in
ihren Einrichtungen tief vom Chriſtenthum durchdrungen; der Titel
„Welt“ trifft ſie beim Licht betrachtet nicht viel mehr, als er auch

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[35/0045] man, durch den Werth der Sache veranlaßt, allen Nachdruck auf die erſte Seite und ſetzt dieſe im ſinnlichen Hang der Menſchen¬ natur unmittelbar identiſch mit der zweiten, ſo gibt dieß den bekannten fanatiſchen Eroberungsruf eines ſozuſagen kirchlichen Chauvinismus: „Gott will es!“, womit ſo vielfach nur der liebe Eigenwille ſich verbrämt. Die eigene Ausprägungsform gilt um des (wenn es gut geht noch vorhandenen) Gehalts willen für die allein vollwichtige, für welche man rückſichtslos überall die An¬ erkennung fordert oder »in Dei gloriam« zu erzwingen ſucht. Was wollen ſolchem, in der Idee erhabenen Streben gegenüber Kleinigkeiten wie Nationalgrenzen heißen, als ob ſich nicht auch das Himmelszelt gleichmäßig über Alle ſpannte! Oder aber hält man ſich wohl frei davon, das Sinnlich¬ ſichtbare für die mehr oder weniger angemeſſene Gegenwart des Unſichtbaren zu halten; allein nun wendet man ſich ſchwärmeriſch idealen und übergeiſtigen Sinnes ganz von der irrationalen oder böſen Erſcheinungswelt ab, um nur in jenen Höhen zu leben und zu weben. Auch für dieſen Sinn hat die Erde als „Jammerthal“ wenig Bedeutung und Reiz mehr. Der Staat (und am Ende faſt auch die zeitliche Kirche) iſt ein nothwendiges Uebel lediglich um der Böſen willen; das Vaterland auf dieſer Welt (und die ecclesia visi¬ bis) iſt eine wenigſagende Durchgangsſtation zur wahren Heimath. Wenn dieſer Vorwurf unerachtet materialer muſtergültiger Loyali¬ tät (ſtatt moderner „Loyolität“) bekanntlich ſchon die erſte Chriſten¬ gemeinde traf, ſo dürfen wir nicht vergeſſen, wie das verweſende heidniſche Alterthum ringsumher Vieles zu dieſem platoniſch-chriſt¬ lichen Idealismus, dieſer ascetiſchen Weltflucht (Phaedo!) beitrug. Anders könnte ſich die Sache aber doch in der neuen chriſt¬ lichen Zeit ſtellen. Trotz all der bekannten unberechtigten wie be¬ rechtigten Vorwürfe ſind die Staaten wenigſtens ſachlich und in ihren Einrichtungen tief vom Chriſtenthum durchdrungen; der Titel „Welt“ trifft ſie beim Licht betrachtet nicht viel mehr, als er auch 3*

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Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/45>, abgerufen am 19.04.2024.