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Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

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sache die Entwicklung selbst, ob auch zuweilen auf langen Irr-
und Umwegen geordnet hat.

Gegenüber dem seltsamen, erst aus späteren Kulturzeiten ent¬
lehnten Wahn des "bellum omnium contra omnes", des wilden
Kriegs als Urstands, hat die Natur schon durch die geschlechtliche
Differenz die ursprünglichsten Einheitsbande zwischen den, hienach
bereits nicht mehr atomistisch vereinzelten Individuen geknüpft.
Die Familienkreise erweitern sich zum patriarchalischen Zusammen¬
leben, zur Horde; allmählig giebt man das nomadische "überall
und nirgends" auf und wird seßhaft. Hieran schließt sich wie
dem Wort, so der Sache nach Sitte, Sittlichkeit und Gesetz (ezo,
ethos, ethos -- nemo, nomos; Gewohnheit u. s. w.); da¬
her feierte Hellas einst in den Thesmophorien die Götter, welche
den Ackerbau gelehrt, zugleich als Gründer der Rechtsordnung.
In solch stetigem Prozeß, der durch äußere Anstöße immerhin
beschleunigt oder sonst modifizirt werden mag, wird das zuerst
nur Instinktive und sich von selbst Machende, Gewohnheitsmäßige
und Traditionelle in das Licht des klaren Bewußtseins und ver¬
nünftigen Wollens aufgenommen. Es erhält jetzt, zwar nicht erst sein
Dasein in künstlicher Macherei, wie der seltsame Mangel an wirk¬
lich geschichtlichem Sinn im vorigen Jahrhundert so vielfach wähnte,
wohl aber seine reinigende, Auswüchse beschneidende, Lücken ergän¬
zende Sanctionirung und greifbare Festsetzung als Niederschlag des
praktischen Geistes in einem physisch und psychisch zusammengehöri¬
gen Menschenkomplex. Damit formt sich die Volksmasse zur ge¬
gliederten Nation, zum Staat.

Nunmehr erhält der gemeinsame Boden eine höhere geweihte
Bedeutung als Ort der gemeinsamen Geschichte und ihrer Denkmäler.
Dieß ist das "Vaterland" -- ein ander Ding in der That, als
wie Fichte es früher so geringschätzig nur in den materiellen Massen
von Erdschollen, Flüssen und Bergen sah! Für das sinnige, ge¬

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ſache die Entwicklung ſelbſt, ob auch zuweilen auf langen Irr-
und Umwegen geordnet hat.

Gegenüber dem ſeltſamen, erſt aus ſpäteren Kulturzeiten ent¬
lehnten Wahn des »bellum omnium contra omnes«, des wilden
Kriegs als Urſtands, hat die Natur ſchon durch die geſchlechtliche
Differenz die urſprünglichſten Einheitsbande zwiſchen den, hienach
bereits nicht mehr atomiſtiſch vereinzelten Individuen geknüpft.
Die Familienkreiſe erweitern ſich zum patriarchaliſchen Zuſammen¬
leben, zur Horde; allmählig giebt man das nomadiſche „überall
und nirgends“ auf und wird ſeßhaft. Hieran ſchließt ſich wie
dem Wort, ſo der Sache nach Sitte, Sittlichkeit und Geſetz (ἕζω,
ἔϑος, ἦϑος — νέμω, νόμος; Gewohnheit u. ſ. w.); da¬
her feierte Hellas einſt in den Thesmophorien die Götter, welche
den Ackerbau gelehrt, zugleich als Gründer der Rechtsordnung.
In ſolch ſtetigem Prozeß, der durch äußere Anſtöße immerhin
beſchleunigt oder ſonſt modifizirt werden mag, wird das zuerſt
nur Inſtinktive und ſich von ſelbſt Machende, Gewohnheitsmäßige
und Traditionelle in das Licht des klaren Bewußtſeins und ver¬
nünftigen Wollens aufgenommen. Es erhält jetzt, zwar nicht erſt ſein
Daſein in künſtlicher Macherei, wie der ſeltſame Mangel an wirk¬
lich geſchichtlichem Sinn im vorigen Jahrhundert ſo vielfach wähnte,
wohl aber ſeine reinigende, Auswüchſe beſchneidende, Lücken ergän¬
zende Sanctionirung und greifbare Feſtſetzung als Niederſchlag des
praktiſchen Geiſtes in einem phyſiſch und pſychiſch zuſammengehöri¬
gen Menſchenkomplex. Damit formt ſich die Volksmaſſe zur ge¬
gliederten Nation, zum Staat.

Nunmehr erhält der gemeinſame Boden eine höhere geweihte
Bedeutung als Ort der gemeinſamen Geſchichte und ihrer Denkmäler.
Dieß iſt das „Vaterland“ — ein ander Ding in der That, als
wie Fichte es früher ſo geringſchätzig nur in den materiellen Maſſen
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[19/0029] ſache die Entwicklung ſelbſt, ob auch zuweilen auf langen Irr- und Umwegen geordnet hat. Gegenüber dem ſeltſamen, erſt aus ſpäteren Kulturzeiten ent¬ lehnten Wahn des »bellum omnium contra omnes«, des wilden Kriegs als Urſtands, hat die Natur ſchon durch die geſchlechtliche Differenz die urſprünglichſten Einheitsbande zwiſchen den, hienach bereits nicht mehr atomiſtiſch vereinzelten Individuen geknüpft. Die Familienkreiſe erweitern ſich zum patriarchaliſchen Zuſammen¬ leben, zur Horde; allmählig giebt man das nomadiſche „überall und nirgends“ auf und wird ſeßhaft. Hieran ſchließt ſich wie dem Wort, ſo der Sache nach Sitte, Sittlichkeit und Geſetz (ἕζω, ἔϑος, ἦϑος — νέμω, νόμος; Gewohnheit u. ſ. w.); da¬ her feierte Hellas einſt in den Thesmophorien die Götter, welche den Ackerbau gelehrt, zugleich als Gründer der Rechtsordnung. In ſolch ſtetigem Prozeß, der durch äußere Anſtöße immerhin beſchleunigt oder ſonſt modifizirt werden mag, wird das zuerſt nur Inſtinktive und ſich von ſelbſt Machende, Gewohnheitsmäßige und Traditionelle in das Licht des klaren Bewußtſeins und ver¬ nünftigen Wollens aufgenommen. Es erhält jetzt, zwar nicht erſt ſein Daſein in künſtlicher Macherei, wie der ſeltſame Mangel an wirk¬ lich geſchichtlichem Sinn im vorigen Jahrhundert ſo vielfach wähnte, wohl aber ſeine reinigende, Auswüchſe beſchneidende, Lücken ergän¬ zende Sanctionirung und greifbare Feſtſetzung als Niederſchlag des praktiſchen Geiſtes in einem phyſiſch und pſychiſch zuſammengehöri¬ gen Menſchenkomplex. Damit formt ſich die Volksmaſſe zur ge¬ gliederten Nation, zum Staat. Nunmehr erhält der gemeinſame Boden eine höhere geweihte Bedeutung als Ort der gemeinſamen Geſchichte und ihrer Denkmäler. Dieß iſt das „Vaterland“ — ein ander Ding in der That, als wie Fichte es früher ſo geringſchätzig nur in den materiellen Maſſen von Erdſchollen, Flüſſen und Bergen ſah! Für das ſinnige, ge¬ 2*

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Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/29>, abgerufen am 25.04.2024.