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Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

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tig zum Durchbruch verhalfen, nemlich Schießpulver und Buch¬
druckerkunst. Noch ehe also unsere Gegenwart mit deren stärkeren
Geschwistern, Dampf und Telegraph, Länder und Meere umspannt
oder in hochgesteigerter Wissenschaft nicht nur der fernen Welt¬
körper Stoffe beinahe chemisch analysirend prüft, der entlegensten
Erdzeiten Dunkel durch ihre Fackel erhellt, aus Wort- oder Sach¬
trümmern die Urgeschichte unseres Planeten und Geschlechts zu
entziffern vermag, noch vor All dem ist es die schönste Blüthe schon
jener früheren, Welt und Blick erweiternden Errungenschaften, daß
endlich einmal auch der Menschengeist aufhört, an der Scholle zu
kleben, wo er zufällig geboren, als träge Raupe langsam in ärm¬
lichem Bezirk dahinzukriechen, statt dem Schmetterling gleich sich
frei in den Lüsten von Blume zu Blume zu wiegen und nieder¬
zulassen, wo es ihm gefällt. Jene alle engherzige und kurzsichtige
Beschränktheit ist überwunden; es ist die Zeit gekommen, daß des
Geistes allein wahres Wesen, der freie Zug zum großen Ganzen,
der Blick und Sinn fürs Allgemeine der Welt ausschließlich zum
Recht komme, wie es ihm gebührt, nachdem er solange geschlum¬
mert oder nur dürftige Befriedigung gefunden hat.

Einen höchst schlagenden Ausdruck findet diese modernkosmo¬
politische Geistesaristokratie in einer früheren Schrift des so stark
politischen Philosophen Fichte, welche als Repräsentation der
ganzen damaligen Zeitstimmung namentlich in Deutschland ange¬
sehen werden mag. Fast als wollte er das Arndt'sche Vaterlands¬
lied anticipirend parodiren, fragt er nemlich hier: "Was ist denn
das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers?
Im Allgemeinen ist es Europa; insbesondre in jedem Zeitalter
derjenige europäische Staat, welcher auf der Höhe der Kultur
steht. Jener Staat, welcher gefährlich fehl greift, wird mit der
Zeit untergehen; aber ebendarum kommen andre und unter diesen
vorzüglich Einer herauf. Mögen doch die Erdgeborenen, welche

tig zum Durchbruch verhalfen, nemlich Schießpulver und Buch¬
druckerkunſt. Noch ehe alſo unſere Gegenwart mit deren ſtärkeren
Geſchwiſtern, Dampf und Telegraph, Länder und Meere umſpannt
oder in hochgeſteigerter Wiſſenſchaft nicht nur der fernen Welt¬
körper Stoffe beinahe chemiſch analyſirend prüft, der entlegenſten
Erdzeiten Dunkel durch ihre Fackel erhellt, aus Wort- oder Sach¬
trümmern die Urgeſchichte unſeres Planeten und Geſchlechts zu
entziffern vermag, noch vor All dem iſt es die ſchönſte Blüthe ſchon
jener früheren, Welt und Blick erweiternden Errungenſchaften, daß
endlich einmal auch der Menſchengeiſt aufhört, an der Scholle zu
kleben, wo er zufällig geboren, als träge Raupe langſam in ärm¬
lichem Bezirk dahinzukriechen, ſtatt dem Schmetterling gleich ſich
frei in den Lüſten von Blume zu Blume zu wiegen und nieder¬
zulaſſen, wo es ihm gefällt. Jene alle engherzige und kurzſichtige
Beſchränktheit iſt überwunden; es iſt die Zeit gekommen, daß des
Geiſtes allein wahres Weſen, der freie Zug zum großen Ganzen,
der Blick und Sinn fürs Allgemeine der Welt ausſchließlich zum
Recht komme, wie es ihm gebührt, nachdem er ſolange geſchlum¬
mert oder nur dürftige Befriedigung gefunden hat.

Einen höchſt ſchlagenden Ausdruck findet dieſe modernkosmo¬
politiſche Geiſtesariſtokratie in einer früheren Schrift des ſo ſtark
politiſchen Philoſophen Fichte, welche als Repräſentation der
ganzen damaligen Zeitſtimmung namentlich in Deutſchland ange¬
ſehen werden mag. Faſt als wollte er das Arndt'ſche Vaterlands¬
lied anticipirend parodiren, fragt er nemlich hier: „Was iſt denn
das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten chriſtlichen Europäers?
Im Allgemeinen iſt es Europa; insbeſondre in jedem Zeitalter
derjenige europäiſche Staat, welcher auf der Höhe der Kultur
ſteht. Jener Staat, welcher gefährlich fehl greift, wird mit der
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[10/0020] tig zum Durchbruch verhalfen, nemlich Schießpulver und Buch¬ druckerkunſt. Noch ehe alſo unſere Gegenwart mit deren ſtärkeren Geſchwiſtern, Dampf und Telegraph, Länder und Meere umſpannt oder in hochgeſteigerter Wiſſenſchaft nicht nur der fernen Welt¬ körper Stoffe beinahe chemiſch analyſirend prüft, der entlegenſten Erdzeiten Dunkel durch ihre Fackel erhellt, aus Wort- oder Sach¬ trümmern die Urgeſchichte unſeres Planeten und Geſchlechts zu entziffern vermag, noch vor All dem iſt es die ſchönſte Blüthe ſchon jener früheren, Welt und Blick erweiternden Errungenſchaften, daß endlich einmal auch der Menſchengeiſt aufhört, an der Scholle zu kleben, wo er zufällig geboren, als träge Raupe langſam in ärm¬ lichem Bezirk dahinzukriechen, ſtatt dem Schmetterling gleich ſich frei in den Lüſten von Blume zu Blume zu wiegen und nieder¬ zulaſſen, wo es ihm gefällt. Jene alle engherzige und kurzſichtige Beſchränktheit iſt überwunden; es iſt die Zeit gekommen, daß des Geiſtes allein wahres Weſen, der freie Zug zum großen Ganzen, der Blick und Sinn fürs Allgemeine der Welt ausſchließlich zum Recht komme, wie es ihm gebührt, nachdem er ſolange geſchlum¬ mert oder nur dürftige Befriedigung gefunden hat. Einen höchſt ſchlagenden Ausdruck findet dieſe modernkosmo¬ politiſche Geiſtesariſtokratie in einer früheren Schrift des ſo ſtark politiſchen Philoſophen Fichte, welche als Repräſentation der ganzen damaligen Zeitſtimmung namentlich in Deutſchland ange¬ ſehen werden mag. Faſt als wollte er das Arndt'ſche Vaterlands¬ lied anticipirend parodiren, fragt er nemlich hier: „Was iſt denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten chriſtlichen Europäers? Im Allgemeinen iſt es Europa; insbeſondre in jedem Zeitalter derjenige europäiſche Staat, welcher auf der Höhe der Kultur ſteht. Jener Staat, welcher gefährlich fehl greift, wird mit der Zeit untergehen; aber ebendarum kommen andre und unter dieſen vorzüglich Einer herauf. Mögen doch die Erdgeborenen, welche

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Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/20>, abgerufen am 25.04.2024.