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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Gesichtsschädel.
die individuellen Schwankungen hinüberführen zu einem höheren
oder zu einem niederen Typus.

Sehr stark wird der Ausdruck des menschlichen Antlitzes
durch das Hervortreten der Jochbogen beherrscht. Beharrlich ist
auch dieses Merkmal nicht, gleichwohl leistet es dort, wo es in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle auftritt, der Völkerbeschreibung
nicht zu verschmähende Dienste. Bringt man einen Schädel in
die Lage, dass der Blick des Beschauers oben, senkrecht die Mitte
der grossen Achse trifft (Norma verticalis), so kann das Auge mit
Sicherheit entscheiden, ob die Jochbogen wie zwei Henkel die Um-
risse der Gehirnschale überragen (phanerozyge) oder ob sie hinter
ihnen verdeckt bleiben (kryptozyge Schädel), und im ersteren Falle
werden wir sagen können, dass die Backenknochen stark hervor-
springen. In neuester Zeit hat man auch der Gestalt der Augen-
höhlen am knöchernen Gesicht Aufmerksamkeit geschenkt, doch
haben die bisherigen Messungen Merkmale, welche für die Völker-
kunde brauchbar wären, nicht erkennen lassen. Ganz unabhängig
von den knöchernen Gebilden scheint die schiefe Stellung der
Augenschlitze zu sein 1), die als Kennzeichen aller mongolenähn-
lichen Völker zwar nicht ganz verlässig ist, doch aber bei der Be-
schreibung nicht völlig vergessen werden darf. Auch die Form
der Nase war bei den älteren Völkerschilderungen nicht übergangen
worden. Am jüdischen Typus seiner Nase ist der Papuane, an
ihrer Plattdrückung sind die nordasiatischen Mongolen zu erkennen.
Bei den Bewohnern Tübets soll der Nasensattel so flach sein, dass
er in der Profilansicht nur wenig über die Wölbung des Auges
hervortritt oder bei kräftigen Personen wohl völlig hinter ihr ver-
schwindet2).

Das Unterkieferbein ist früher von den Schädelkennern vernach-
lässigt und erst in neuerer Zeit beobachtet worden. Je nachdem es sich
zuspitzt oder abflacht, bekommt das Gesicht bald ovale, bald eckige,
bald quadratische Umrisse. Wenn wir uns aber umschauen in unsrer
täglichen Umgebung, entdecken wir auch hier so viele Typen, so viele
Uebergänge neben und durch einander, dass eine sehr stattliche
Zahl von Messungen dazu gehören würde, um nur sagen zu können,
welche unter den mancherlei Bildungen an Häufigkeit überwiege.

1) v. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 51.
2) v. Schlagintweit, l. c. Bd. 2, S. 48.

Der Gesichtsschädel.
die individuellen Schwankungen hinüberführen zu einem höheren
oder zu einem niederen Typus.

Sehr stark wird der Ausdruck des menschlichen Antlitzes
durch das Hervortreten der Jochbogen beherrscht. Beharrlich ist
auch dieses Merkmal nicht, gleichwohl leistet es dort, wo es in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle auftritt, der Völkerbeschreibung
nicht zu verschmähende Dienste. Bringt man einen Schädel in
die Lage, dass der Blick des Beschauers oben, senkrecht die Mitte
der grossen Achse trifft (Norma verticalis), so kann das Auge mit
Sicherheit entscheiden, ob die Jochbogen wie zwei Henkel die Um-
risse der Gehirnschale überragen (phanerozyge) oder ob sie hinter
ihnen verdeckt bleiben (kryptozyge Schädel), und im ersteren Falle
werden wir sagen können, dass die Backenknochen stark hervor-
springen. In neuester Zeit hat man auch der Gestalt der Augen-
höhlen am knöchernen Gesicht Aufmerksamkeit geschenkt, doch
haben die bisherigen Messungen Merkmale, welche für die Völker-
kunde brauchbar wären, nicht erkennen lassen. Ganz unabhängig
von den knöchernen Gebilden scheint die schiefe Stellung der
Augenschlitze zu sein 1), die als Kennzeichen aller mongolenähn-
lichen Völker zwar nicht ganz verlässig ist, doch aber bei der Be-
schreibung nicht völlig vergessen werden darf. Auch die Form
der Nase war bei den älteren Völkerschilderungen nicht übergangen
worden. Am jüdischen Typus seiner Nase ist der Papuane, an
ihrer Plattdrückung sind die nordasiatischen Mongolen zu erkennen.
Bei den Bewohnern Tübets soll der Nasensattel so flach sein, dass
er in der Profilansicht nur wenig über die Wölbung des Auges
hervortritt oder bei kräftigen Personen wohl völlig hinter ihr ver-
schwindet2).

Das Unterkieferbein ist früher von den Schädelkennern vernach-
lässigt und erst in neuerer Zeit beobachtet worden. Je nachdem es sich
zuspitzt oder abflacht, bekommt das Gesicht bald ovale, bald eckige,
bald quadratische Umrisse. Wenn wir uns aber umschauen in unsrer
täglichen Umgebung, entdecken wir auch hier so viele Typen, so viele
Uebergänge neben und durch einander, dass eine sehr stattliche
Zahl von Messungen dazu gehören würde, um nur sagen zu können,
welche unter den mancherlei Bildungen an Häufigkeit überwiege.

1) v. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 51.
2) v. Schlagintweit, l. c. Bd. 2, S. 48.
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[79/0097] Der Gesichtsschädel. die individuellen Schwankungen hinüberführen zu einem höheren oder zu einem niederen Typus. Sehr stark wird der Ausdruck des menschlichen Antlitzes durch das Hervortreten der Jochbogen beherrscht. Beharrlich ist auch dieses Merkmal nicht, gleichwohl leistet es dort, wo es in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auftritt, der Völkerbeschreibung nicht zu verschmähende Dienste. Bringt man einen Schädel in die Lage, dass der Blick des Beschauers oben, senkrecht die Mitte der grossen Achse trifft (Norma verticalis), so kann das Auge mit Sicherheit entscheiden, ob die Jochbogen wie zwei Henkel die Um- risse der Gehirnschale überragen (phanerozyge) oder ob sie hinter ihnen verdeckt bleiben (kryptozyge Schädel), und im ersteren Falle werden wir sagen können, dass die Backenknochen stark hervor- springen. In neuester Zeit hat man auch der Gestalt der Augen- höhlen am knöchernen Gesicht Aufmerksamkeit geschenkt, doch haben die bisherigen Messungen Merkmale, welche für die Völker- kunde brauchbar wären, nicht erkennen lassen. Ganz unabhängig von den knöchernen Gebilden scheint die schiefe Stellung der Augenschlitze zu sein 1), die als Kennzeichen aller mongolenähn- lichen Völker zwar nicht ganz verlässig ist, doch aber bei der Be- schreibung nicht völlig vergessen werden darf. Auch die Form der Nase war bei den älteren Völkerschilderungen nicht übergangen worden. Am jüdischen Typus seiner Nase ist der Papuane, an ihrer Plattdrückung sind die nordasiatischen Mongolen zu erkennen. Bei den Bewohnern Tübets soll der Nasensattel so flach sein, dass er in der Profilansicht nur wenig über die Wölbung des Auges hervortritt oder bei kräftigen Personen wohl völlig hinter ihr ver- schwindet 2). Das Unterkieferbein ist früher von den Schädelkennern vernach- lässigt und erst in neuerer Zeit beobachtet worden. Je nachdem es sich zuspitzt oder abflacht, bekommt das Gesicht bald ovale, bald eckige, bald quadratische Umrisse. Wenn wir uns aber umschauen in unsrer täglichen Umgebung, entdecken wir auch hier so viele Typen, so viele Uebergänge neben und durch einander, dass eine sehr stattliche Zahl von Messungen dazu gehören würde, um nur sagen zu können, welche unter den mancherlei Bildungen an Häufigkeit überwiege. 1) v. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 51. 2) v. Schlagintweit, l. c. Bd. 2, S. 48.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/97>, abgerufen am 28.03.2024.