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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Gesichtsschädel.
Racenschädeln von 60° bis zu 72°. Als prognath bezeichnet
Welcker einen Schädel, wenn jener Winkel 68° und mehr beträgt,
als opistognath, wenn er unter 65° bleibt, Schädel dagegen von
65° bis nicht ganz 68° nennt er orthognath, wofür wir aber meso-
gnath sagen wollen. Eine Musterung der Schädelformen lässt uns
wahrnehmen, dass im Allgemeinen Prognathismus vorzugsweise bei
Schmalschädeln auftritt, während die Mittel- und Breitschädel meist
mesognath, bisweilen opistognath sind. Doch ist auch dieses Zu-
sammentreffen kein strenges, denn Eskimo, Mexicaner, Hottentotten
und Hochschotten gehören nach Welcker zu den mesognathen
Dolichocephalen, wie umgekehrt die Sumatraner und Baschkiren
einen Breitenindex von 80,1 und 82,3 mit einem Prognathismus im
Betrage von 69°5 und 67°6 vereinigen. Es könnte nun befremden,
warum bei Bestimmung der Kieferrichtung die Zirkelspitze über den
Zahnfächern und nicht sogleich an dem untern Zahnfächerrande,
oder wohl gar an den Schneidezähnen angesetzt wurde, da an
diesen Punkten das Vorspringen des Gesichtsschädels am meisten
sich steigert. Sehr viele Schädel sind aber gerade an jenen Stellen
verletzt, sie müssten deshalb als unbrauchbar ausgeschieden werden.
Aber wichtiger ist es noch, dass derjenige Prognathismus, der durch
die schräge Stellung der Zahnfächer erzeugt wird, auf unwesentliche
Wachsthumsrichtungen sich begründet.

Der prognathe Gesichtstypus kann, wie Virchow auseinander-
gesetzt hat 1), das Gehirn in seiner vollen Entwickelung hemmen.
Es ist daher von tiefgehender Bedeutung, dass wir jene ungünstige
Kieferstellung fast ausschliesslich nur bei solchen Völkern finden,
deren Gesittung noch ziemlich unreif erscheint. Allein auch hier
muss wieder erinnert werden, dass innerhalb der nämlichen Völker
abweichende Gestaltungen neben einander vorkommen. Fälle von
Prognathismus sind bei Engländern und Franzosen nicht unerhört,
in Paris sollen sie ziemlich häufig auftreten 2), ferner werden die
Chinesen von manchen Craniologen unter die prognathen Völker
gerechnet und in Welcker's Statistik begegnen wir den Holländern
sogar mit einem Winkel an der Nasenwurzel, der 67° 8 lautet. Bei
so grosser Veränderlichkeit belehren uns die Mittelzahlen nur über
die Häufigkeit einer bestimmten Form des Gesichtsschädels, während

1) Schädelgrund, S. 121.
2) Quatrefages, Rapport. p. 311.

Der Gesichtsschädel.
Racenschädeln von 60° bis zu 72°. Als prognath bezeichnet
Welcker einen Schädel, wenn jener Winkel 68° und mehr beträgt,
als opistognath, wenn er unter 65° bleibt, Schädel dagegen von
65° bis nicht ganz 68° nennt er orthognath, wofür wir aber meso-
gnath sagen wollen. Eine Musterung der Schädelformen lässt uns
wahrnehmen, dass im Allgemeinen Prognathismus vorzugsweise bei
Schmalschädeln auftritt, während die Mittel- und Breitschädel meist
mesognath, bisweilen opistognath sind. Doch ist auch dieses Zu-
sammentreffen kein strenges, denn Eskimo, Mexicaner, Hottentotten
und Hochschotten gehören nach Welcker zu den mesognathen
Dolichocephalen, wie umgekehrt die Sumatraner und Baschkiren
einen Breitenindex von 80,1 und 82,3 mit einem Prognathismus im
Betrage von 69°5 und 67°6 vereinigen. Es könnte nun befremden,
warum bei Bestimmung der Kieferrichtung die Zirkelspitze über den
Zahnfächern und nicht sogleich an dem untern Zahnfächerrande,
oder wohl gar an den Schneidezähnen angesetzt wurde, da an
diesen Punkten das Vorspringen des Gesichtsschädels am meisten
sich steigert. Sehr viele Schädel sind aber gerade an jenen Stellen
verletzt, sie müssten deshalb als unbrauchbar ausgeschieden werden.
Aber wichtiger ist es noch, dass derjenige Prognathismus, der durch
die schräge Stellung der Zahnfächer erzeugt wird, auf unwesentliche
Wachsthumsrichtungen sich begründet.

Der prognathe Gesichtstypus kann, wie Virchow auseinander-
gesetzt hat 1), das Gehirn in seiner vollen Entwickelung hemmen.
Es ist daher von tiefgehender Bedeutung, dass wir jene ungünstige
Kieferstellung fast ausschliesslich nur bei solchen Völkern finden,
deren Gesittung noch ziemlich unreif erscheint. Allein auch hier
muss wieder erinnert werden, dass innerhalb der nämlichen Völker
abweichende Gestaltungen neben einander vorkommen. Fälle von
Prognathismus sind bei Engländern und Franzosen nicht unerhört,
in Paris sollen sie ziemlich häufig auftreten 2), ferner werden die
Chinesen von manchen Craniologen unter die prognathen Völker
gerechnet und in Welcker’s Statistik begegnen wir den Holländern
sogar mit einem Winkel an der Nasenwurzel, der 67° 8 lautet. Bei
so grosser Veränderlichkeit belehren uns die Mittelzahlen nur über
die Häufigkeit einer bestimmten Form des Gesichtsschädels, während

1) Schädelgrund, S. 121.
2) Quatrefages, Rapport. p. 311.
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[78/0096] Der Gesichtsschädel. Racenschädeln von 60° bis zu 72°. Als prognath bezeichnet Welcker einen Schädel, wenn jener Winkel 68° und mehr beträgt, als opistognath, wenn er unter 65° bleibt, Schädel dagegen von 65° bis nicht ganz 68° nennt er orthognath, wofür wir aber meso- gnath sagen wollen. Eine Musterung der Schädelformen lässt uns wahrnehmen, dass im Allgemeinen Prognathismus vorzugsweise bei Schmalschädeln auftritt, während die Mittel- und Breitschädel meist mesognath, bisweilen opistognath sind. Doch ist auch dieses Zu- sammentreffen kein strenges, denn Eskimo, Mexicaner, Hottentotten und Hochschotten gehören nach Welcker zu den mesognathen Dolichocephalen, wie umgekehrt die Sumatraner und Baschkiren einen Breitenindex von 80,1 und 82,3 mit einem Prognathismus im Betrage von 69°5 und 67°6 vereinigen. Es könnte nun befremden, warum bei Bestimmung der Kieferrichtung die Zirkelspitze über den Zahnfächern und nicht sogleich an dem untern Zahnfächerrande, oder wohl gar an den Schneidezähnen angesetzt wurde, da an diesen Punkten das Vorspringen des Gesichtsschädels am meisten sich steigert. Sehr viele Schädel sind aber gerade an jenen Stellen verletzt, sie müssten deshalb als unbrauchbar ausgeschieden werden. Aber wichtiger ist es noch, dass derjenige Prognathismus, der durch die schräge Stellung der Zahnfächer erzeugt wird, auf unwesentliche Wachsthumsrichtungen sich begründet. Der prognathe Gesichtstypus kann, wie Virchow auseinander- gesetzt hat 1), das Gehirn in seiner vollen Entwickelung hemmen. Es ist daher von tiefgehender Bedeutung, dass wir jene ungünstige Kieferstellung fast ausschliesslich nur bei solchen Völkern finden, deren Gesittung noch ziemlich unreif erscheint. Allein auch hier muss wieder erinnert werden, dass innerhalb der nämlichen Völker abweichende Gestaltungen neben einander vorkommen. Fälle von Prognathismus sind bei Engländern und Franzosen nicht unerhört, in Paris sollen sie ziemlich häufig auftreten 2), ferner werden die Chinesen von manchen Craniologen unter die prognathen Völker gerechnet und in Welcker’s Statistik begegnen wir den Holländern sogar mit einem Winkel an der Nasenwurzel, der 67° 8 lautet. Bei so grosser Veränderlichkeit belehren uns die Mittelzahlen nur über die Häufigkeit einer bestimmten Form des Gesichtsschädels, während 1) Schädelgrund, S. 121. 2) Quatrefages, Rapport. p. 311.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/96>, abgerufen am 28.03.2024.