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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Das menschliche Gehirn.
Larvenmantel, dem das geflügelte Geschöpf entschlüpft ist. Daran
knüpft sich die Erkenntniss, dass alle Schädelformen nur einen
künstlerischen Werth besitzen, und uns vorläufig keinen Aufschluss
gewähren, über etwaige Stufen des menschlichen Denkvermögens
unter einem dolichocephalen oder einem brachycephalen Knochen-
helm. Künstliche Verunstaltung des Schädeldaches durch Zu-
sammenschnüren des Kinderkopfes, wie es bei Völkern des Alter-
thums geschah, wie es noch jetzt vorkommt bei unzähligen Be-
wohnern Amerikas, wie es selbst in Nordfrankreich der Brauch
unvorsichtiger Mütter ist 1), mögen zwar nicht völlig unschädlich
sein, haben aber doch die gesunden Verrichtungen der künstlich
umgeformten Denkwerkzeuge nicht wahrnehmbar gehindert.

Was nun das edelste unsrer Organe, nämlich das Gehirn und
zwar sein Gewicht betrifft, so schwankt es von 2, 3 bis zu 4 Pfund,
während wir beim Elephanten 8--10, beim Walfisch 4--5, bei
einem 18 Fuss langen Narwal noch 2 Pfd. 30 Loth, bei einem
7 Fuss langen Delphin 21/2 Pfd. Gehirnmasse antreffen. "Wer
aber möchte wagen", bemerkt ein berühmter französischer Physiolog,
"aus der Masse des Gehirnes auf das Wesen und die Kraft eines
menschlichen oder nur eines thierischen Geschöpfes zu schliessen."
Wer wollte, könnten wir hinzusetzen, nach dem Gewichte ent-
scheiden, ob eine Thurmuhr oder ein Taschenchronometer schärfere
Zeiteintheilungen gewähren? und doch sind beides nur Kunstwerke
unsrer Hände. Die Schwere des Gehirns in Bezug auf das Ge-
sammtgewicht des Körpers nimmt ebenfalls bei dem Menschen
nicht die höchste Stelle ein, denn wenn auch das Hirn des Wal
nur einem 3300stel, das des Elephanten einem 500stel, des Hundes
einem 250stel, das des Menschen einem 37stel bis 35stel des
Körpergewichtes entspricht, so werden wir doch übertroffen von
den Singvögeln, bei denen das Gewicht des Gehirns 1/27, von der
Blaumeise, bei der es 1/12, vom Sperling, bei dem es 1/27 und von
amerikanischen Affen, bei denen es 1/28 bis 1/13 des Körperge-
wichts erreicht 2).

Wenn daher dem hohem Range des Menschen in der Schöpfung

1) S. Ausland 1866. S. 1095 die Abbildungen von künstlichen Schädel-
verdrückungen.
2) Th. Bischoff in den Naturwissenschaftlichen Vorträgen Münchener
Gelehrten. München 1858. S. 319.

Das menschliche Gehirn.
Larvenmantel, dem das geflügelte Geschöpf entschlüpft ist. Daran
knüpft sich die Erkenntniss, dass alle Schädelformen nur einen
künstlerischen Werth besitzen, und uns vorläufig keinen Aufschluss
gewähren, über etwaige Stufen des menschlichen Denkvermögens
unter einem dolichocephalen oder einem brachycephalen Knochen-
helm. Künstliche Verunstaltung des Schädeldaches durch Zu-
sammenschnüren des Kinderkopfes, wie es bei Völkern des Alter-
thums geschah, wie es noch jetzt vorkommt bei unzähligen Be-
wohnern Amerikas, wie es selbst in Nordfrankreich der Brauch
unvorsichtiger Mütter ist 1), mögen zwar nicht völlig unschädlich
sein, haben aber doch die gesunden Verrichtungen der künstlich
umgeformten Denkwerkzeuge nicht wahrnehmbar gehindert.

Was nun das edelste unsrer Organe, nämlich das Gehirn und
zwar sein Gewicht betrifft, so schwankt es von 2, 3 bis zu 4 Pfund,
während wir beim Elephanten 8—10, beim Walfisch 4—5, bei
einem 18 Fuss langen Narwal noch 2 Pfd. 30 Loth, bei einem
7 Fuss langen Delphin 2½ Pfd. Gehirnmasse antreffen. „Wer
aber möchte wagen“, bemerkt ein berühmter französischer Physiolog,
„aus der Masse des Gehirnes auf das Wesen und die Kraft eines
menschlichen oder nur eines thierischen Geschöpfes zu schliessen.“
Wer wollte, könnten wir hinzusetzen, nach dem Gewichte ent-
scheiden, ob eine Thurmuhr oder ein Taschenchronometer schärfere
Zeiteintheilungen gewähren? und doch sind beides nur Kunstwerke
unsrer Hände. Die Schwere des Gehirns in Bezug auf das Ge-
sammtgewicht des Körpers nimmt ebenfalls bei dem Menschen
nicht die höchste Stelle ein, denn wenn auch das Hirn des Wal
nur einem 3300stel, das des Elephanten einem 500stel, des Hundes
einem 250stel, das des Menschen einem 37stel bis 35stel des
Körpergewichtes entspricht, so werden wir doch übertroffen von
den Singvögeln, bei denen das Gewicht des Gehirns 1/27, von der
Blaumeise, bei der es 1/12, vom Sperling, bei dem es 1/27 und von
amerikanischen Affen, bei denen es 1/28 bis 1/13 des Körperge-
wichts erreicht 2).

Wenn daher dem hohem Range des Menschen in der Schöpfung

1) S. Ausland 1866. S. 1095 die Abbildungen von künstlichen Schädel-
verdrückungen.
2) Th. Bischoff in den Naturwissenschaftlichen Vorträgen Münchener
Gelehrten. München 1858. S. 319.
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[64/0082] Das menschliche Gehirn. Larvenmantel, dem das geflügelte Geschöpf entschlüpft ist. Daran knüpft sich die Erkenntniss, dass alle Schädelformen nur einen künstlerischen Werth besitzen, und uns vorläufig keinen Aufschluss gewähren, über etwaige Stufen des menschlichen Denkvermögens unter einem dolichocephalen oder einem brachycephalen Knochen- helm. Künstliche Verunstaltung des Schädeldaches durch Zu- sammenschnüren des Kinderkopfes, wie es bei Völkern des Alter- thums geschah, wie es noch jetzt vorkommt bei unzähligen Be- wohnern Amerikas, wie es selbst in Nordfrankreich der Brauch unvorsichtiger Mütter ist 1), mögen zwar nicht völlig unschädlich sein, haben aber doch die gesunden Verrichtungen der künstlich umgeformten Denkwerkzeuge nicht wahrnehmbar gehindert. Was nun das edelste unsrer Organe, nämlich das Gehirn und zwar sein Gewicht betrifft, so schwankt es von 2, 3 bis zu 4 Pfund, während wir beim Elephanten 8—10, beim Walfisch 4—5, bei einem 18 Fuss langen Narwal noch 2 Pfd. 30 Loth, bei einem 7 Fuss langen Delphin 2½ Pfd. Gehirnmasse antreffen. „Wer aber möchte wagen“, bemerkt ein berühmter französischer Physiolog, „aus der Masse des Gehirnes auf das Wesen und die Kraft eines menschlichen oder nur eines thierischen Geschöpfes zu schliessen.“ Wer wollte, könnten wir hinzusetzen, nach dem Gewichte ent- scheiden, ob eine Thurmuhr oder ein Taschenchronometer schärfere Zeiteintheilungen gewähren? und doch sind beides nur Kunstwerke unsrer Hände. Die Schwere des Gehirns in Bezug auf das Ge- sammtgewicht des Körpers nimmt ebenfalls bei dem Menschen nicht die höchste Stelle ein, denn wenn auch das Hirn des Wal nur einem 3300stel, das des Elephanten einem 500stel, des Hundes einem 250stel, das des Menschen einem 37stel bis 35stel des Körpergewichtes entspricht, so werden wir doch übertroffen von den Singvögeln, bei denen das Gewicht des Gehirns 1/27, von der Blaumeise, bei der es 1/12, vom Sperling, bei dem es 1/27 und von amerikanischen Affen, bei denen es 1/28 bis 1/13 des Körperge- wichts erreicht 2). Wenn daher dem hohem Range des Menschen in der Schöpfung 1) S. Ausland 1866. S. 1095 die Abbildungen von künstlichen Schädel- verdrückungen. 2) Th. Bischoff in den Naturwissenschaftlichen Vorträgen Münchener Gelehrten. München 1858. S. 319.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/82>, abgerufen am 23.04.2024.