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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Das Alter des Menschengeschlechtes.
gedenken, welches in einer Höhle des Neanderthales im August
1856 unweit Düsseldorf gefunden und anfangs wegen seiner ge-
waltigen Augenbrauenbogen und flachen Schädeldecke als eine Ur-
kunde zur Beglaubigung für das Aufsteigen unsres Geschlechtes aus
dem Thierreich gepriesen wurde. Bald ergab sich jedoch, dass
seine Maassverhältnisse den heutigen Mitteln der Europäer ziem-
lich nahe stehen. Im gegenwärtigen Zustande umfasst nämlich jene
Hirnschale einen Raum von 63 Kubikzollen, der nach einer Schätzung
Schaaffhausens auf 75 Cubikzolle steigen würde, wenn sie uns un-
versehrt erhalten geblieben wäre 1). Europäische Schädel schwanken
aber zwischen 55 und 114 C. Z. Deswegen durfte auch Charles
Darwin den Neanderthalschädel "sehr gut entwickelt und geräumig
nennen" 2). Endlich hat Virchow vor der Berliner anthropologischen
Gesellschaft am 27. April 1872 geäussert, dass jener Schädel von
einem alten, mit Rhachitis behafteten Manne herrühre, als Racen-
schädel zu verwerfen sei, auch seiner Grösse nach "innerhalb ganz
erträglicher Grenzen sich bewege" und in Bezug auf die Kau-
muskeln nicht die Zeichen von thierischer Rohheit, wie bei Eskimo
und Australiern zur Schau trage 3). Damit ist der Werth dieses
Fundstückes auf ein sehr alltägliches Mass herabgesetzt worden.

Auch in unserm Vaterlande fehlt es nicht an Resten von
Höhlenbewohnern, wie die seit 1871 untersuchten im Hohlefels bei
Schelklingen unweit Blaubeuren. Zu der Thierwelt im damaligen
Thale der Blau gehörten nicht blos Mammuthe und Elephanten,
sondern ein stattlicher Löwe (Felis spelaea), drei ausgestorbne Bären-
arten (Ursus spelaeus, U. priscus und U. tarandi Fraas) und das
Renthier, dessen Geweihe zu Geräthen verarbeitet wurden. Unter
die dortigen Culturreste mischen sich auch Scherben von Thon-
geschirren, die ihrer flachen Form wegen zum Rösten und Braten
gedient haben müssen 4).

Alle bisherigen Funde verstatten uns nur das Alter unsres
Geschlechtes in die Zeit der ausgestorbnen Höhlenfauna hinauf-
zurücken. Dagegen berechtigt uns nicht die Verbreitung des Ren

1) Fuhlrott, der fossile Mensch aus dem Neanderthale. Duisburg
1865. S. 69.
2) Abstammung des Menschen I, 126.
3) Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie. 1872. S. 157--161.
4) S. Oscar Fraas, Über die Ausgrabungen im Hohlefels in den
Würtemberg. naturw. Jahresheften. 1872. 1. Heft. S. 25.

Das Alter des Menschengeschlechtes.
gedenken, welches in einer Höhle des Neanderthales im August
1856 unweit Düsseldorf gefunden und anfangs wegen seiner ge-
waltigen Augenbrauenbogen und flachen Schädeldecke als eine Ur-
kunde zur Beglaubigung für das Aufsteigen unsres Geschlechtes aus
dem Thierreich gepriesen wurde. Bald ergab sich jedoch, dass
seine Maassverhältnisse den heutigen Mitteln der Europäer ziem-
lich nahe stehen. Im gegenwärtigen Zustande umfasst nämlich jene
Hirnschale einen Raum von 63 Kubikzollen, der nach einer Schätzung
Schaaffhausens auf 75 Cubikzolle steigen würde, wenn sie uns un-
versehrt erhalten geblieben wäre 1). Europäische Schädel schwanken
aber zwischen 55 und 114 C. Z. Deswegen durfte auch Charles
Darwin den Neanderthalschädel „sehr gut entwickelt und geräumig
nennen“ 2). Endlich hat Virchow vor der Berliner anthropologischen
Gesellschaft am 27. April 1872 geäussert, dass jener Schädel von
einem alten, mit Rhachitis behafteten Manne herrühre, als Racen-
schädel zu verwerfen sei, auch seiner Grösse nach „innerhalb ganz
erträglicher Grenzen sich bewege“ und in Bezug auf die Kau-
muskeln nicht die Zeichen von thierischer Rohheit, wie bei Eskimo
und Australiern zur Schau trage 3). Damit ist der Werth dieses
Fundstückes auf ein sehr alltägliches Mass herabgesetzt worden.

Auch in unserm Vaterlande fehlt es nicht an Resten von
Höhlenbewohnern, wie die seit 1871 untersuchten im Hohlefels bei
Schelklingen unweit Blaubeuren. Zu der Thierwelt im damaligen
Thale der Blau gehörten nicht blos Mammuthe und Elephanten,
sondern ein stattlicher Löwe (Felis spelaea), drei ausgestorbne Bären-
arten (Ursus spelaeus, U. priscus und U. tarandi Fraas) und das
Renthier, dessen Geweihe zu Geräthen verarbeitet wurden. Unter
die dortigen Culturreste mischen sich auch Scherben von Thon-
geschirren, die ihrer flachen Form wegen zum Rösten und Braten
gedient haben müssen 4).

Alle bisherigen Funde verstatten uns nur das Alter unsres
Geschlechtes in die Zeit der ausgestorbnen Höhlenfauna hinauf-
zurücken. Dagegen berechtigt uns nicht die Verbreitung des Ren

1) Fuhlrott, der fossile Mensch aus dem Neanderthale. Duisburg
1865. S. 69.
2) Abstammung des Menschen I, 126.
3) Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie. 1872. S. 157—161.
4) S. Oscar Fraas, Über die Ausgrabungen im Hohlefels in den
Würtemberg. naturw. Jahresheften. 1872. 1. Heft. S. 25.
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[41/0059] Das Alter des Menschengeschlechtes. gedenken, welches in einer Höhle des Neanderthales im August 1856 unweit Düsseldorf gefunden und anfangs wegen seiner ge- waltigen Augenbrauenbogen und flachen Schädeldecke als eine Ur- kunde zur Beglaubigung für das Aufsteigen unsres Geschlechtes aus dem Thierreich gepriesen wurde. Bald ergab sich jedoch, dass seine Maassverhältnisse den heutigen Mitteln der Europäer ziem- lich nahe stehen. Im gegenwärtigen Zustande umfasst nämlich jene Hirnschale einen Raum von 63 Kubikzollen, der nach einer Schätzung Schaaffhausens auf 75 Cubikzolle steigen würde, wenn sie uns un- versehrt erhalten geblieben wäre 1). Europäische Schädel schwanken aber zwischen 55 und 114 C. Z. Deswegen durfte auch Charles Darwin den Neanderthalschädel „sehr gut entwickelt und geräumig nennen“ 2). Endlich hat Virchow vor der Berliner anthropologischen Gesellschaft am 27. April 1872 geäussert, dass jener Schädel von einem alten, mit Rhachitis behafteten Manne herrühre, als Racen- schädel zu verwerfen sei, auch seiner Grösse nach „innerhalb ganz erträglicher Grenzen sich bewege“ und in Bezug auf die Kau- muskeln nicht die Zeichen von thierischer Rohheit, wie bei Eskimo und Australiern zur Schau trage 3). Damit ist der Werth dieses Fundstückes auf ein sehr alltägliches Mass herabgesetzt worden. Auch in unserm Vaterlande fehlt es nicht an Resten von Höhlenbewohnern, wie die seit 1871 untersuchten im Hohlefels bei Schelklingen unweit Blaubeuren. Zu der Thierwelt im damaligen Thale der Blau gehörten nicht blos Mammuthe und Elephanten, sondern ein stattlicher Löwe (Felis spelaea), drei ausgestorbne Bären- arten (Ursus spelaeus, U. priscus und U. tarandi Fraas) und das Renthier, dessen Geweihe zu Geräthen verarbeitet wurden. Unter die dortigen Culturreste mischen sich auch Scherben von Thon- geschirren, die ihrer flachen Form wegen zum Rösten und Braten gedient haben müssen 4). Alle bisherigen Funde verstatten uns nur das Alter unsres Geschlechtes in die Zeit der ausgestorbnen Höhlenfauna hinauf- zurücken. Dagegen berechtigt uns nicht die Verbreitung des Ren 1) Fuhlrott, der fossile Mensch aus dem Neanderthale. Duisburg 1865. S. 69. 2) Abstammung des Menschen I, 126. 3) Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie. 1872. S. 157—161. 4) S. Oscar Fraas, Über die Ausgrabungen im Hohlefels in den Würtemberg. naturw. Jahresheften. 1872. 1. Heft. S. 25.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/59>, abgerufen am 18.04.2024.