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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die mittelländische Race.
können. Die alten Hellenen, als Bewohner von Inseln, scharf ge-
schnittener Halbinseln, Landengen, durch Gebirge streng abge-
schiedener Thäler und Landschaften, genossen alle Reize und
Vorzüge der politischen Kleinwirthschaft, günstig für Entfaltung
geistiger Mannichfaltigkeit, hinderlich aber für grössere nationale
Leistungen. So versanken sie in geschichtliche Vergessenheit, als
ihre Zeit abgelaufen war. Ganz ähnlich ist Europa jetzt der schick-
lichste Erdraum zur Ausbildung von Völkern mit scharf ausge-
geprägter Persönlichkeit. Es konnte kaum anders kommen, als
dass Spanien, die britischen Inseln, Skandinavien, Italien, die
illyrische Halbinsel, dass Frankreich mit natürlichen Grenzen auf
drei und Deutschland mit natürlichen Grenzen auf zwei Seiten
geschlossene Staaten oder Gesellschaften bilden sollten, selbst
das europäische Russland erscheint uns als ein leidlich abgeson-
derter Länderraum. Nur regt sich die Besorgniss, ob die Ent-
wicklung einer Mehrzahl stark individualisirter Völker nicht bald
so kleinlich erscheinen möchte wie das Sonderleben von Athen, von
Lakedämon, Korinth und Böotien erschien, als die Zeit für grössere
geschichtliche Schöpfungen eingetreten war.

Im Westen von uns in einer Welt, der eine alte und alternde
gegenübersteht, auf Gebieten zwischen zwei Oceanen gelegen, er-
füllt ein junges Völkergemisch bald den Raum eines Festlandes,
das leicht die dreifache Einwohnerzahl China's, nämlich 1000
Millionen, ernähren könnte, wächst eine neue Gesellschaft auf, alle
Jahrzehnte ihre Kopfzahl um ein Drittel vermehrend, so dass sie
voraussichtlich das zwanzigste Jahrhundert mit 100 Millionen an-
treten wird. Wenn dermaleinst auf jenem Schauplatz höhere
Aufgaben gelöst werden, dann müssen die Völker Europa's aus
dem geschichtlichen Vordergrund zurücktreten. Sobald bei uns
die Sonne im Mittag steht, röthen ihre ersten Strahlen die Küsten-
landschaften der neuen Welt. So ist es auch mit der mensch-
lichen Cultur. Europa steht jetzt im Mittag ihrer Bahn und drüben
dämmert bereits der Morgen. Die Sonne aber rückt weiter, sie steht
nicht gefesselt wie auf Joshua's Geheiss, und wie die Gliederungen
unseres Welttheiles, geologisch aufgefasst, nur eine flüchtige Er-
scheinung sind, so wird auch ihr sittengeschichtlicher Werth dem
Loose alles Vergänglichen sich nicht entziehen können.


Die mittelländische Race.
können. Die alten Hellenen, als Bewohner von Inseln, scharf ge-
schnittener Halbinseln, Landengen, durch Gebirge streng abge-
schiedener Thäler und Landschaften, genossen alle Reize und
Vorzüge der politischen Kleinwirthschaft, günstig für Entfaltung
geistiger Mannichfaltigkeit, hinderlich aber für grössere nationale
Leistungen. So versanken sie in geschichtliche Vergessenheit, als
ihre Zeit abgelaufen war. Ganz ähnlich ist Europa jetzt der schick-
lichste Erdraum zur Ausbildung von Völkern mit scharf ausge-
geprägter Persönlichkeit. Es konnte kaum anders kommen, als
dass Spanien, die britischen Inseln, Skandinavien, Italien, die
illyrische Halbinsel, dass Frankreich mit natürlichen Grenzen auf
drei und Deutschland mit natürlichen Grenzen auf zwei Seiten
geschlossene Staaten oder Gesellschaften bilden sollten, selbst
das europäische Russland erscheint uns als ein leidlich abgeson-
derter Länderraum. Nur regt sich die Besorgniss, ob die Ent-
wicklung einer Mehrzahl stark individualisirter Völker nicht bald
so kleinlich erscheinen möchte wie das Sonderleben von Athen, von
Lakedämon, Korinth und Böotien erschien, als die Zeit für grössere
geschichtliche Schöpfungen eingetreten war.

Im Westen von uns in einer Welt, der eine alte und alternde
gegenübersteht, auf Gebieten zwischen zwei Oceanen gelegen, er-
füllt ein junges Völkergemisch bald den Raum eines Festlandes,
das leicht die dreifache Einwohnerzahl China’s, nämlich 1000
Millionen, ernähren könnte, wächst eine neue Gesellschaft auf, alle
Jahrzehnte ihre Kopfzahl um ein Drittel vermehrend, so dass sie
voraussichtlich das zwanzigste Jahrhundert mit 100 Millionen an-
treten wird. Wenn dermaleinst auf jenem Schauplatz höhere
Aufgaben gelöst werden, dann müssen die Völker Europa’s aus
dem geschichtlichen Vordergrund zurücktreten. Sobald bei uns
die Sonne im Mittag steht, röthen ihre ersten Strahlen die Küsten-
landschaften der neuen Welt. So ist es auch mit der mensch-
lichen Cultur. Europa steht jetzt im Mittag ihrer Bahn und drüben
dämmert bereits der Morgen. Die Sonne aber rückt weiter, sie steht
nicht gefesselt wie auf Joshua’s Geheiss, und wie die Gliederungen
unseres Welttheiles, geologisch aufgefasst, nur eine flüchtige Er-
scheinung sind, so wird auch ihr sittengeschichtlicher Werth dem
Loose alles Vergänglichen sich nicht entziehen können.


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[557/0575] Die mittelländische Race. können. Die alten Hellenen, als Bewohner von Inseln, scharf ge- schnittener Halbinseln, Landengen, durch Gebirge streng abge- schiedener Thäler und Landschaften, genossen alle Reize und Vorzüge der politischen Kleinwirthschaft, günstig für Entfaltung geistiger Mannichfaltigkeit, hinderlich aber für grössere nationale Leistungen. So versanken sie in geschichtliche Vergessenheit, als ihre Zeit abgelaufen war. Ganz ähnlich ist Europa jetzt der schick- lichste Erdraum zur Ausbildung von Völkern mit scharf ausge- geprägter Persönlichkeit. Es konnte kaum anders kommen, als dass Spanien, die britischen Inseln, Skandinavien, Italien, die illyrische Halbinsel, dass Frankreich mit natürlichen Grenzen auf drei und Deutschland mit natürlichen Grenzen auf zwei Seiten geschlossene Staaten oder Gesellschaften bilden sollten, selbst das europäische Russland erscheint uns als ein leidlich abgeson- derter Länderraum. Nur regt sich die Besorgniss, ob die Ent- wicklung einer Mehrzahl stark individualisirter Völker nicht bald so kleinlich erscheinen möchte wie das Sonderleben von Athen, von Lakedämon, Korinth und Böotien erschien, als die Zeit für grössere geschichtliche Schöpfungen eingetreten war. Im Westen von uns in einer Welt, der eine alte und alternde gegenübersteht, auf Gebieten zwischen zwei Oceanen gelegen, er- füllt ein junges Völkergemisch bald den Raum eines Festlandes, das leicht die dreifache Einwohnerzahl China’s, nämlich 1000 Millionen, ernähren könnte, wächst eine neue Gesellschaft auf, alle Jahrzehnte ihre Kopfzahl um ein Drittel vermehrend, so dass sie voraussichtlich das zwanzigste Jahrhundert mit 100 Millionen an- treten wird. Wenn dermaleinst auf jenem Schauplatz höhere Aufgaben gelöst werden, dann müssen die Völker Europa’s aus dem geschichtlichen Vordergrund zurücktreten. Sobald bei uns die Sonne im Mittag steht, röthen ihre ersten Strahlen die Küsten- landschaften der neuen Welt. So ist es auch mit der mensch- lichen Cultur. Europa steht jetzt im Mittag ihrer Bahn und drüben dämmert bereits der Morgen. Die Sonne aber rückt weiter, sie steht nicht gefesselt wie auf Joshua’s Geheiss, und wie die Gliederungen unseres Welttheiles, geologisch aufgefasst, nur eine flüchtige Er- scheinung sind, so wird auch ihr sittengeschichtlicher Werth dem Loose alles Vergänglichen sich nicht entziehen können.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/575>, abgerufen am 19.04.2024.