Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Australier.
griffes noch einen Priesterstand nennen könnte. In Neu-Süd-Wales
und in Queensland, also an den bevorzugten Culturstreifen Austra-
liens, begegnen wir dagegen den Koradschi oder Leuten, welche
den Pöbelschauder vor dem Finstern so weit abgestreift haben,
dass sie auf den Gräbern Verstorbener eine Nacht ausharren. Auch
vermögen sie den Kranken durch ihre Schamanenkunststücke Trost
und neue Zuversicht einzuflössen und wissen dabei rohe Linderungs-
mittel, unter andern das Aderlassen, anzuwenden. Ueberrascht wer-
den wir, dass bei den Menschengespenstern der Westküste die Unver-
letzlichkeit von Botschaftern als Völkerpflicht beobachtet wird, solange
eine klaffende Verwundung, durch welche der Abgesendete gezeichnet
zu werden pflegt, nicht völlig vernarbt ist 1). Dass ferner die
heutigen Australier zur Hebung auf die nächsten höheren Zu-
stände völlig befähigt waren, beweisen die Erfahrungen in Queens-
land und Neu-Süd-Wales, wo viele Eingeborne rasch und richtig
das Englische sprechen lernten, zu gewandten und kühnen Reitern
sich ausbildeten, als Hirten wegen ihrer Brauchbarkeit im Busche
den Europäern vorgezogen wurden, und dass man aus ihnen eine
sehr wirksame Sicherheitswache für entlegene Weideplätze sich
erziehen konnte.

Wenn sie dennoch ihre Zustände nicht veredelt haben, so
trägt einen Theil der Schuld die Abgelegenheit ihres Welttheiles,
welche eine Berührung mit andern Völkerschaften erschwerte.
Am frühesten wurden daher die Bewohner der Carpentariahalbinsel
durch einwandernde Papuanen geweckt und wirkten wieder günstig
auf ihre südlichen Nachbarn, wie sich denn alle neuen Volks-
gesänge und alle dabei aufgeführten Tänze nach Angas 2) an der
Ostküste von Norden nach Süden fortgepflanzt haben. Was aber
die Australier so tief erniedrigt, ist die Unkenntniss eines Acker-
baues, ohne dass sie etwa streng maritime Völker gewesen wären,
wie die Feuerländer oder die Eskimo. So mussten sie sich mit
dem Ertrag der Jagd, an den Küsten der See und den Ufern der
Flüsse mit dem des Fisch- und Muschelfanges und mit den Nähr-
stoffen wildwachsender Wurzeln begnügen. Bei dieser Abhängig-
keit vom Tagesglück schaudert der Mensch noch nicht vor kaltem

1) Browne, in Petermann's Mittheilungen. 1856. S. 449.
2) Australia and New Zealand. tom. II. p. 216.
Peschel, Völkerkunde. 23

Die Australier.
griffes noch einen Priesterstand nennen könnte. In Neu-Süd-Wales
und in Queensland, also an den bevorzugten Culturstreifen Austra-
liens, begegnen wir dagegen den Koradschi oder Leuten, welche
den Pöbelschauder vor dem Finstern so weit abgestreift haben,
dass sie auf den Gräbern Verstorbener eine Nacht ausharren. Auch
vermögen sie den Kranken durch ihre Schamanenkunststücke Trost
und neue Zuversicht einzuflössen und wissen dabei rohe Linderungs-
mittel, unter andern das Aderlassen, anzuwenden. Ueberrascht wer-
den wir, dass bei den Menschengespenstern der Westküste die Unver-
letzlichkeit von Botschaftern als Völkerpflicht beobachtet wird, solange
eine klaffende Verwundung, durch welche der Abgesendete gezeichnet
zu werden pflegt, nicht völlig vernarbt ist 1). Dass ferner die
heutigen Australier zur Hebung auf die nächsten höheren Zu-
stände völlig befähigt waren, beweisen die Erfahrungen in Queens-
land und Neu-Süd-Wales, wo viele Eingeborne rasch und richtig
das Englische sprechen lernten, zu gewandten und kühnen Reitern
sich ausbildeten, als Hirten wegen ihrer Brauchbarkeit im Busche
den Europäern vorgezogen wurden, und dass man aus ihnen eine
sehr wirksame Sicherheitswache für entlegene Weideplätze sich
erziehen konnte.

Wenn sie dennoch ihre Zustände nicht veredelt haben, so
trägt einen Theil der Schuld die Abgelegenheit ihres Welttheiles,
welche eine Berührung mit andern Völkerschaften erschwerte.
Am frühesten wurden daher die Bewohner der Carpentariahalbinsel
durch einwandernde Papuanen geweckt und wirkten wieder günstig
auf ihre südlichen Nachbarn, wie sich denn alle neuen Volks-
gesänge und alle dabei aufgeführten Tänze nach Angas 2) an der
Ostküste von Norden nach Süden fortgepflanzt haben. Was aber
die Australier so tief erniedrigt, ist die Unkenntniss eines Acker-
baues, ohne dass sie etwa streng maritime Völker gewesen wären,
wie die Feuerländer oder die Eskimo. So mussten sie sich mit
dem Ertrag der Jagd, an den Küsten der See und den Ufern der
Flüsse mit dem des Fisch- und Muschelfanges und mit den Nähr-
stoffen wildwachsender Wurzeln begnügen. Bei dieser Abhängig-
keit vom Tagesglück schaudert der Mensch noch nicht vor kaltem

1) Browne, in Petermann’s Mittheilungen. 1856. S. 449.
2) Australia and New Zealand. tom. II. p. 216.
Peschel, Völkerkunde. 23
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0371" n="353"/><fw place="top" type="header">Die Australier.</fw><lb/>
griffes noch einen Priesterstand nennen könnte. In Neu-Süd-Wales<lb/>
und in Queensland, also an den bevorzugten Culturstreifen Austra-<lb/>
liens, begegnen wir dagegen den Koradschi oder Leuten, welche<lb/>
den Pöbelschauder vor dem Finstern so weit abgestreift haben,<lb/>
dass sie auf den Gräbern Verstorbener eine Nacht ausharren. Auch<lb/>
vermögen sie den Kranken durch ihre Schamanenkunststücke Trost<lb/>
und neue Zuversicht einzuflössen und wissen dabei rohe Linderungs-<lb/>
mittel, unter andern das Aderlassen, anzuwenden. Ueberrascht wer-<lb/>
den wir, dass bei den Menschengespenstern der Westküste die Unver-<lb/>
letzlichkeit von Botschaftern als Völkerpflicht beobachtet wird, solange<lb/>
eine klaffende Verwundung, durch welche der Abgesendete gezeichnet<lb/>
zu werden pflegt, nicht völlig vernarbt ist <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Browne</hi>, in Petermann&#x2019;s Mittheilungen. 1856. S. 449.</note>. Dass ferner die<lb/>
heutigen Australier zur Hebung auf die nächsten höheren Zu-<lb/>
stände völlig befähigt waren, beweisen die Erfahrungen in Queens-<lb/>
land und Neu-Süd-Wales, wo viele Eingeborne rasch und richtig<lb/>
das Englische sprechen lernten, zu gewandten und kühnen Reitern<lb/>
sich ausbildeten, als Hirten wegen ihrer Brauchbarkeit im Busche<lb/>
den Europäern vorgezogen wurden, und dass man aus ihnen eine<lb/>
sehr wirksame Sicherheitswache für entlegene Weideplätze sich<lb/>
erziehen konnte.</p><lb/>
          <p>Wenn sie dennoch ihre Zustände nicht veredelt haben, so<lb/>
trägt einen Theil der Schuld die Abgelegenheit ihres Welttheiles,<lb/>
welche eine Berührung mit andern Völkerschaften erschwerte.<lb/>
Am frühesten wurden daher die Bewohner der Carpentariahalbinsel<lb/>
durch einwandernde Papuanen geweckt und wirkten wieder günstig<lb/>
auf ihre südlichen Nachbarn, wie sich denn alle neuen Volks-<lb/>
gesänge und alle dabei aufgeführten Tänze nach Angas <note place="foot" n="2)">Australia and New Zealand. tom. II. p. 216.</note> an der<lb/>
Ostküste von Norden nach Süden fortgepflanzt haben. Was aber<lb/>
die Australier so tief erniedrigt, ist die Unkenntniss eines Acker-<lb/>
baues, ohne dass sie etwa streng maritime Völker gewesen wären,<lb/>
wie die Feuerländer oder die Eskimo. So mussten sie sich mit<lb/>
dem Ertrag der Jagd, an den Küsten der See und den Ufern der<lb/>
Flüsse mit dem des Fisch- und Muschelfanges und mit den Nähr-<lb/>
stoffen wildwachsender Wurzeln begnügen. Bei dieser Abhängig-<lb/>
keit vom Tagesglück schaudert der Mensch noch nicht vor kaltem<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Peschel</hi>, Völkerkunde. 23</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0371] Die Australier. griffes noch einen Priesterstand nennen könnte. In Neu-Süd-Wales und in Queensland, also an den bevorzugten Culturstreifen Austra- liens, begegnen wir dagegen den Koradschi oder Leuten, welche den Pöbelschauder vor dem Finstern so weit abgestreift haben, dass sie auf den Gräbern Verstorbener eine Nacht ausharren. Auch vermögen sie den Kranken durch ihre Schamanenkunststücke Trost und neue Zuversicht einzuflössen und wissen dabei rohe Linderungs- mittel, unter andern das Aderlassen, anzuwenden. Ueberrascht wer- den wir, dass bei den Menschengespenstern der Westküste die Unver- letzlichkeit von Botschaftern als Völkerpflicht beobachtet wird, solange eine klaffende Verwundung, durch welche der Abgesendete gezeichnet zu werden pflegt, nicht völlig vernarbt ist 1). Dass ferner die heutigen Australier zur Hebung auf die nächsten höheren Zu- stände völlig befähigt waren, beweisen die Erfahrungen in Queens- land und Neu-Süd-Wales, wo viele Eingeborne rasch und richtig das Englische sprechen lernten, zu gewandten und kühnen Reitern sich ausbildeten, als Hirten wegen ihrer Brauchbarkeit im Busche den Europäern vorgezogen wurden, und dass man aus ihnen eine sehr wirksame Sicherheitswache für entlegene Weideplätze sich erziehen konnte. Wenn sie dennoch ihre Zustände nicht veredelt haben, so trägt einen Theil der Schuld die Abgelegenheit ihres Welttheiles, welche eine Berührung mit andern Völkerschaften erschwerte. Am frühesten wurden daher die Bewohner der Carpentariahalbinsel durch einwandernde Papuanen geweckt und wirkten wieder günstig auf ihre südlichen Nachbarn, wie sich denn alle neuen Volks- gesänge und alle dabei aufgeführten Tänze nach Angas 2) an der Ostküste von Norden nach Süden fortgepflanzt haben. Was aber die Australier so tief erniedrigt, ist die Unkenntniss eines Acker- baues, ohne dass sie etwa streng maritime Völker gewesen wären, wie die Feuerländer oder die Eskimo. So mussten sie sich mit dem Ertrag der Jagd, an den Küsten der See und den Ufern der Flüsse mit dem des Fisch- und Muschelfanges und mit den Nähr- stoffen wildwachsender Wurzeln begnügen. Bei dieser Abhängig- keit vom Tagesglück schaudert der Mensch noch nicht vor kaltem 1) Browne, in Petermann’s Mittheilungen. 1856. S. 449. 2) Australia and New Zealand. tom. II. p. 216. Peschel, Völkerkunde. 23

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/371
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/371>, abgerufen am 23.04.2024.