Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Australier.
sondern sogar vier Casusendungen mehr als die lateinische, und
ausser Einheit und Mehrheit noch einen Dual. Das Verbum, an
Zeiten so reich wie das lateinische, hat ebenfalls Endungen für
den Dual, ja drei Geschlechtsformen für die dritte Person, sonst
aber ausser den Activ- und Passiv-, noch Reflexiv-, Reciprocal-,
Determinativ- und Continuativformen1). Was die Gabe der Sprach-
bildung betrifft, so müssen also vor dem erfinderischen Australier
selbst die hochgesitteten Polynesier, ja noch mehr ein graues
Culturvolk wie die Chinesen sich beugen. Wir finden auch bei
ihnen poetische Versuche und hochgefeierte Dichternamen. Sind
ihre Gesänge auch roh, so enthalten sie doch Ausdrücke, die
nicht mehr im Tagesverkehr vorkommen2). Sie haben ferner für
Fixsterngruppen manche hübsche Bildernamen erdacht. In der
Milchstrasse sehen sie eine Abspiegelung des Darlingstromes, an
dessen Ufern ihre verklärten Abgeschiedenen Fischfang treiben, in
den Magalhaens'schen Wolken aber zwei alte Zauberinnen, die wegen
ihrer Verbrechen an den Himmel geheftet wurden3). Am meisten
überrascht uns, dass sie Namen für acht verschiedene Windstriche
besitzen4), denn mit der Theilung des Horizontes in Azimuthe be-
ginnt überhaupt die Theilung des Kreises. Ungemein erfinderisch
sind sie in Höflichkeitsausdrücken, die sie im Verkehr fordern und
freigebig ertheilen.

Schon anderwärts haben wir mitgetheilt, dass bei ihnen grosse
Scheu vor Blutschande, daher auch Frauenraub herrscht, dass sie
die Pflichten der Blutrache heilig halten, Eigenthum an unbeweg-
lichen Sachen anerkennen und von der Mutter den Familiennamen
erben5). Selbst auf der Stufe der Australier ist der gesellige Ver-
band schon durch mancherlei Satzungen geregelt. Zwar soll den
Sprachen der Australier jeder Ausdruck für Häuptling fehlen6),
auch suchen wir vergebens, dass bei den westlichen Stämmen
irgend etwas vorkomme, was man mit starker Dehnung des Be-

1) Reise der Fregatte Novara. Linguistischer Theil von Friedr. Müller.
S. 241 ff.
2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 756--759.
3) Dr. Charnock im Journal of the Anthropological Institute. London
1872. vol. I. p. 147.
4) Waitz, l. c. S. 763.
5) S. oben S. 233. S. 235. S. 243. S. 247. S. 251.
6) Wilkes, Unit. States Exploring Expedition. tom. II. p. 186.

Die Australier.
sondern sogar vier Casusendungen mehr als die lateinische, und
ausser Einheit und Mehrheit noch einen Dual. Das Verbum, an
Zeiten so reich wie das lateinische, hat ebenfalls Endungen für
den Dual, ja drei Geschlechtsformen für die dritte Person, sonst
aber ausser den Activ- und Passiv-, noch Reflexiv-, Reciprocal-,
Determinativ- und Continuativformen1). Was die Gabe der Sprach-
bildung betrifft, so müssen also vor dem erfinderischen Australier
selbst die hochgesitteten Polynesier, ja noch mehr ein graues
Culturvolk wie die Chinesen sich beugen. Wir finden auch bei
ihnen poetische Versuche und hochgefeierte Dichternamen. Sind
ihre Gesänge auch roh, so enthalten sie doch Ausdrücke, die
nicht mehr im Tagesverkehr vorkommen2). Sie haben ferner für
Fixsterngruppen manche hübsche Bildernamen erdacht. In der
Milchstrasse sehen sie eine Abspiegelung des Darlingstromes, an
dessen Ufern ihre verklärten Abgeschiedenen Fischfang treiben, in
den Magalhaẽs’schen Wolken aber zwei alte Zauberinnen, die wegen
ihrer Verbrechen an den Himmel geheftet wurden3). Am meisten
überrascht uns, dass sie Namen für acht verschiedene Windstriche
besitzen4), denn mit der Theilung des Horizontes in Azimuthe be-
ginnt überhaupt die Theilung des Kreises. Ungemein erfinderisch
sind sie in Höflichkeitsausdrücken, die sie im Verkehr fordern und
freigebig ertheilen.

Schon anderwärts haben wir mitgetheilt, dass bei ihnen grosse
Scheu vor Blutschande, daher auch Frauenraub herrscht, dass sie
die Pflichten der Blutrache heilig halten, Eigenthum an unbeweg-
lichen Sachen anerkennen und von der Mutter den Familiennamen
erben5). Selbst auf der Stufe der Australier ist der gesellige Ver-
band schon durch mancherlei Satzungen geregelt. Zwar soll den
Sprachen der Australier jeder Ausdruck für Häuptling fehlen6),
auch suchen wir vergebens, dass bei den westlichen Stämmen
irgend etwas vorkomme, was man mit starker Dehnung des Be-

1) Reise der Fregatte Novara. Linguistischer Theil von Friedr. Müller.
S. 241 ff.
2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 756—759.
3) Dr. Charnock im Journal of the Anthropological Institute. London
1872. vol. I. p. 147.
4) Waitz, l. c. S. 763.
5) S. oben S. 233. S. 235. S. 243. S. 247. S. 251.
6) Wilkes, Unit. States Exploring Expedition. tom. II. p. 186.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0370" n="352"/><fw place="top" type="header">Die Australier.</fw><lb/>
sondern sogar vier Casusendungen mehr als die lateinische, und<lb/>
ausser Einheit und Mehrheit noch einen Dual. Das Verbum, an<lb/>
Zeiten so reich wie das lateinische, hat ebenfalls Endungen für<lb/>
den Dual, ja drei Geschlechtsformen für die dritte Person, sonst<lb/>
aber ausser den Activ- und Passiv-, noch Reflexiv-, Reciprocal-,<lb/>
Determinativ- und Continuativformen<note place="foot" n="1)">Reise der Fregatte Novara. Linguistischer Theil von <hi rendition="#g">Friedr. Müller</hi>.<lb/>
S. 241 ff.</note>. Was die Gabe der Sprach-<lb/>
bildung betrifft, so müssen also vor dem erfinderischen Australier<lb/>
selbst die hochgesitteten Polynesier, ja noch mehr ein graues<lb/>
Culturvolk wie die Chinesen sich beugen. Wir finden auch bei<lb/>
ihnen poetische Versuche und hochgefeierte Dichternamen. Sind<lb/>
ihre Gesänge auch roh, so enthalten sie doch Ausdrücke, die<lb/>
nicht mehr im Tagesverkehr vorkommen<note place="foot" n="2)"><hi rendition="#g">Waitz</hi> (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 756&#x2014;759.</note>. Sie haben ferner für<lb/>
Fixsterngruppen manche hübsche Bildernamen erdacht. In der<lb/>
Milchstrasse sehen sie eine Abspiegelung des Darlingstromes, an<lb/>
dessen Ufern ihre verklärten Abgeschiedenen Fischfang treiben, in<lb/>
den Magalha&#x1EBD;s&#x2019;schen Wolken aber zwei alte Zauberinnen, die wegen<lb/>
ihrer Verbrechen an den Himmel geheftet wurden<note place="foot" n="3)">Dr. <hi rendition="#g">Charnock</hi> im Journal of the Anthropological Institute. London<lb/>
1872. vol. I. p. 147.</note>. Am meisten<lb/>
überrascht uns, dass sie Namen für acht verschiedene Windstriche<lb/>
besitzen<note place="foot" n="4)"><hi rendition="#g">Waitz</hi>, l. c. S. 763.</note>, denn mit der Theilung des Horizontes in Azimuthe be-<lb/>
ginnt überhaupt die Theilung des Kreises. Ungemein erfinderisch<lb/>
sind sie in Höflichkeitsausdrücken, die sie im Verkehr fordern und<lb/>
freigebig ertheilen.</p><lb/>
          <p>Schon anderwärts haben wir mitgetheilt, dass bei ihnen grosse<lb/>
Scheu vor Blutschande, daher auch Frauenraub herrscht, dass sie<lb/>
die Pflichten der Blutrache heilig halten, Eigenthum an unbeweg-<lb/>
lichen Sachen anerkennen und von der Mutter den Familiennamen<lb/>
erben<note place="foot" n="5)">S. oben S. 233. S. 235. S. 243. S. 247. S. 251.</note>. Selbst auf der Stufe der Australier ist der gesellige Ver-<lb/>
band schon durch mancherlei Satzungen geregelt. Zwar soll den<lb/>
Sprachen der Australier jeder Ausdruck für Häuptling fehlen<note place="foot" n="6)"><hi rendition="#g">Wilkes</hi>, Unit. States Exploring Expedition. tom. II. p. 186.</note>,<lb/>
auch suchen wir vergebens, dass bei den westlichen Stämmen<lb/>
irgend etwas vorkomme, was man mit starker Dehnung des Be-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0370] Die Australier. sondern sogar vier Casusendungen mehr als die lateinische, und ausser Einheit und Mehrheit noch einen Dual. Das Verbum, an Zeiten so reich wie das lateinische, hat ebenfalls Endungen für den Dual, ja drei Geschlechtsformen für die dritte Person, sonst aber ausser den Activ- und Passiv-, noch Reflexiv-, Reciprocal-, Determinativ- und Continuativformen 1). Was die Gabe der Sprach- bildung betrifft, so müssen also vor dem erfinderischen Australier selbst die hochgesitteten Polynesier, ja noch mehr ein graues Culturvolk wie die Chinesen sich beugen. Wir finden auch bei ihnen poetische Versuche und hochgefeierte Dichternamen. Sind ihre Gesänge auch roh, so enthalten sie doch Ausdrücke, die nicht mehr im Tagesverkehr vorkommen 2). Sie haben ferner für Fixsterngruppen manche hübsche Bildernamen erdacht. In der Milchstrasse sehen sie eine Abspiegelung des Darlingstromes, an dessen Ufern ihre verklärten Abgeschiedenen Fischfang treiben, in den Magalhaẽs’schen Wolken aber zwei alte Zauberinnen, die wegen ihrer Verbrechen an den Himmel geheftet wurden 3). Am meisten überrascht uns, dass sie Namen für acht verschiedene Windstriche besitzen 4), denn mit der Theilung des Horizontes in Azimuthe be- ginnt überhaupt die Theilung des Kreises. Ungemein erfinderisch sind sie in Höflichkeitsausdrücken, die sie im Verkehr fordern und freigebig ertheilen. Schon anderwärts haben wir mitgetheilt, dass bei ihnen grosse Scheu vor Blutschande, daher auch Frauenraub herrscht, dass sie die Pflichten der Blutrache heilig halten, Eigenthum an unbeweg- lichen Sachen anerkennen und von der Mutter den Familiennamen erben 5). Selbst auf der Stufe der Australier ist der gesellige Ver- band schon durch mancherlei Satzungen geregelt. Zwar soll den Sprachen der Australier jeder Ausdruck für Häuptling fehlen 6), auch suchen wir vergebens, dass bei den westlichen Stämmen irgend etwas vorkomme, was man mit starker Dehnung des Be- 1) Reise der Fregatte Novara. Linguistischer Theil von Friedr. Müller. S. 241 ff. 2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 756—759. 3) Dr. Charnock im Journal of the Anthropological Institute. London 1872. vol. I. p. 147. 4) Waitz, l. c. S. 763. 5) S. oben S. 233. S. 235. S. 243. S. 247. S. 251. 6) Wilkes, Unit. States Exploring Expedition. tom. II. p. 186.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/370
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/370>, abgerufen am 25.04.2024.