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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Zone der Religionsstifter.
Charakter aufgedrückt. Die Phantasie, welche die Menschen in
ihrer Kindheit leitet, wird in den unbegrenzten Ebenen mit ganz
anderen Bildern erfüllt, als in Wäldern. Sie sind wenig zahlreich,
aber grossartig, und zwar schafft sich der Mensch aus seinem
eigenen Kraftbewusstsein eine kühnere Persönlichkeit, auf die er
bei seinen Wanderungen angewiesen ist, einen persönlichen Gott".
Im Nomadenleben endlich trägt es sich häufig zu, dass ein Hirt
wochenlang allein, von Hunger und Durst gequält, herumirrt.
Dann leidet auch der Gesündeste an Sinnestäuschungen. Sehr
oft kommt es in dieser Lage vor, dass verlassene Wanderer sich
rufen und Stimmen zu sich sprechen hören; daher ist für solche
Stimmen in der arabischen Sprache ein eigenes Wort Hatif vor-
handen. In Afrika wiederum bedeutet Ragl, abgeleitet von
Radschol, der Mann, menschenähnliche Phantome, die sich dem
getäuschten Auge darbieten1).

Jeder Reisende, der noch die Wüsten Arabiens und Klein-
asiens durchzog, spricht begeistert von ihren Schönheiten, alle
rühmen sie Luft und Licht, preisen sie das Gefühl der Erquickung
und eine merkliche Steigerung der geistigen Spannkraft, noth-
wendig muss daher zwischen dem gewölbten Himmel und den
unbegrenzten Flächen eine monotheistische Stimmung die Kinder
der Wüste beschleichen. Mose, ein Priester von Heliopolis, vergass
erst das Getümmel des äpyptischen Götterkreises, die schönen
Bilder aus Stein, die geheiligten Thiere, die Menschengestalten mit
den Hieroglyphenköpfen und Symbolen, als er nach dem Sinai
entwichen war, dem ältesten Steine, den die Geologie kennt, den
nach Oscar Fraas2) auch nicht der kleinste Fetzen von Bildung
irgend eines späteren Zeitalters bedeckt, als ob er sich nie ins
Meer getaucht, nie sich emporgerichtet, niemals gewankt hätte.
Dort in der Wüste musste erst das alte Judengeschlecht mit seinem
ägyptischen Heidenthum begraben werden, ehe sich bei einem
neuen unter Wüstengedanken und Wüstenbildern erwachsenen der
Monotheismus verhärtete. Auch sonst wird in der heiligen Schrift
die günstige Wirkung der Wüste bestätigt. Der feurige Elia zog
sich in die Wüste zurück, der Täufer wieder predigte in der
Jordanswüste in Beduinentracht, nämlich in einem Gewand aus

1) A. Sprenger, das Leben des Mohammad. Bd. 1. S. 216.
2) Aus dem Orient. Geolog. Beobachtungen. Stuttgart 1867. S. 7--8.

Die Zone der Religionsstifter.
Charakter aufgedrückt. Die Phantasie, welche die Menschen in
ihrer Kindheit leitet, wird in den unbegrenzten Ebenen mit ganz
anderen Bildern erfüllt, als in Wäldern. Sie sind wenig zahlreich,
aber grossartig, und zwar schafft sich der Mensch aus seinem
eigenen Kraftbewusstsein eine kühnere Persönlichkeit, auf die er
bei seinen Wanderungen angewiesen ist, einen persönlichen Gott“.
Im Nomadenleben endlich trägt es sich häufig zu, dass ein Hirt
wochenlang allein, von Hunger und Durst gequält, herumirrt.
Dann leidet auch der Gesündeste an Sinnestäuschungen. Sehr
oft kommt es in dieser Lage vor, dass verlassene Wanderer sich
rufen und Stimmen zu sich sprechen hören; daher ist für solche
Stimmen in der arabischen Sprache ein eigenes Wort Hâtif vor-
handen. In Afrika wiederum bedeutet Ragl, abgeleitet von
Radschol, der Mann, menschenähnliche Phantome, die sich dem
getäuschten Auge darbieten1).

Jeder Reisende, der noch die Wüsten Arabiens und Klein-
asiens durchzog, spricht begeistert von ihren Schönheiten, alle
rühmen sie Luft und Licht, preisen sie das Gefühl der Erquickung
und eine merkliche Steigerung der geistigen Spannkraft, noth-
wendig muss daher zwischen dem gewölbten Himmel und den
unbegrenzten Flächen eine monotheistische Stimmung die Kinder
der Wüste beschleichen. Mose, ein Priester von Heliopolis, vergass
erst das Getümmel des äpyptischen Götterkreises, die schönen
Bilder aus Stein, die geheiligten Thiere, die Menschengestalten mit
den Hieroglyphenköpfen und Symbolen, als er nach dem Sinai
entwichen war, dem ältesten Steine, den die Geologie kennt, den
nach Oscar Fraas2) auch nicht der kleinste Fetzen von Bildung
irgend eines späteren Zeitalters bedeckt, als ob er sich nie ins
Meer getaucht, nie sich emporgerichtet, niemals gewankt hätte.
Dort in der Wüste musste erst das alte Judengeschlecht mit seinem
ägyptischen Heidenthum begraben werden, ehe sich bei einem
neuen unter Wüstengedanken und Wüstenbildern erwachsenen der
Monotheismus verhärtete. Auch sonst wird in der heiligen Schrift
die günstige Wirkung der Wüste bestätigt. Der feurige Elia zog
sich in die Wüste zurück, der Täufer wieder predigte in der
Jordanswüste in Beduinentracht, nämlich in einem Gewand aus

1) A. Sprenger, das Leben des Mohammad. Bd. 1. S. 216.
2) Aus dem Orient. Geolog. Beobachtungen. Stuttgart 1867. S. 7—8.
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[334/0352] Die Zone der Religionsstifter. Charakter aufgedrückt. Die Phantasie, welche die Menschen in ihrer Kindheit leitet, wird in den unbegrenzten Ebenen mit ganz anderen Bildern erfüllt, als in Wäldern. Sie sind wenig zahlreich, aber grossartig, und zwar schafft sich der Mensch aus seinem eigenen Kraftbewusstsein eine kühnere Persönlichkeit, auf die er bei seinen Wanderungen angewiesen ist, einen persönlichen Gott“. Im Nomadenleben endlich trägt es sich häufig zu, dass ein Hirt wochenlang allein, von Hunger und Durst gequält, herumirrt. Dann leidet auch der Gesündeste an Sinnestäuschungen. Sehr oft kommt es in dieser Lage vor, dass verlassene Wanderer sich rufen und Stimmen zu sich sprechen hören; daher ist für solche Stimmen in der arabischen Sprache ein eigenes Wort Hâtif vor- handen. In Afrika wiederum bedeutet Ragl, abgeleitet von Radschol, der Mann, menschenähnliche Phantome, die sich dem getäuschten Auge darbieten 1). Jeder Reisende, der noch die Wüsten Arabiens und Klein- asiens durchzog, spricht begeistert von ihren Schönheiten, alle rühmen sie Luft und Licht, preisen sie das Gefühl der Erquickung und eine merkliche Steigerung der geistigen Spannkraft, noth- wendig muss daher zwischen dem gewölbten Himmel und den unbegrenzten Flächen eine monotheistische Stimmung die Kinder der Wüste beschleichen. Mose, ein Priester von Heliopolis, vergass erst das Getümmel des äpyptischen Götterkreises, die schönen Bilder aus Stein, die geheiligten Thiere, die Menschengestalten mit den Hieroglyphenköpfen und Symbolen, als er nach dem Sinai entwichen war, dem ältesten Steine, den die Geologie kennt, den nach Oscar Fraas 2) auch nicht der kleinste Fetzen von Bildung irgend eines späteren Zeitalters bedeckt, als ob er sich nie ins Meer getaucht, nie sich emporgerichtet, niemals gewankt hätte. Dort in der Wüste musste erst das alte Judengeschlecht mit seinem ägyptischen Heidenthum begraben werden, ehe sich bei einem neuen unter Wüstengedanken und Wüstenbildern erwachsenen der Monotheismus verhärtete. Auch sonst wird in der heiligen Schrift die günstige Wirkung der Wüste bestätigt. Der feurige Elia zog sich in die Wüste zurück, der Täufer wieder predigte in der Jordanswüste in Beduinentracht, nämlich in einem Gewand aus 1) A. Sprenger, das Leben des Mohammad. Bd. 1. S. 216. 2) Aus dem Orient. Geolog. Beobachtungen. Stuttgart 1867. S. 7—8.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/352>, abgerufen am 19.04.2024.