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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Zone der Religionsstifter.
aus dem plötzlich belebter Holzbilder gesprochen werden. Wenn
Buckle in den Zahlenschwelgereien der Hindu, mit ihren endlosen
Weltaltern, in ihrer Sprache selbst, die einen Ausdruck hat für
Ziffern, die mit 51 Stellen geschrieben werden, eine knechtische
Demuth für das hohe Alterthum erkennen will, so möchten wir
doch viel eher dahinter eine Art arithmetischer Liebhaberei suchen,
denn das Volk, welches mit hohen Grössenbegriffen so gierig
spielte, hat zugleich der menschlichen Gesittung auch das höchste
Bildungsmittel nach Erfindung der Schriftzeichen geschenkt, näm-
lich die Kunst, den Werth der Zahlen durch ihre Stellung zu be-
zeichnen, oder wie wir nachlässig uns auszudrücken gewöhnt
haben, die Erfindung der arabischen Ziffern.

Es liegt sehr nahe und wird hier nicht zum erstenmale
ausgesprochen, dass die Schöpfung der religiösen und der
profanen Märchen nur als verschiedene Aeusserungen derselben
geistigen Befähigung zu denken sind. Völker von epischer und
dramatischer Zeugungskraft, Völker, die gern bauen, malen und
meiseln, besitzen auch die Gabe und den Drang, einen Olymp
mit mancherlei Gestalten zu bevölkern, mit heiteren oder düsteren,
je nach den vorherrschenden Gemüthsstimmungen. Nun aber
lässt sich leicht zeigen, dass die Märchenschöpfung nicht ein aus-
schliessliches Eigenthum von reisessenden Hindu sei. Märchen
und Sagen von ergreifender Wirkung werden namentlich in Island
gesammelt unter einer an Zahl sehr spärlichen Bevölkerung. In
Island reift kein Getreide mehr und wächst nur Buschwerk, denn
ein einziger geschützt stehender Maulbeerbaum in Akreyri wird
von den Eingebornen mit Stolz als der Baum der Insel gezeigt.
Die Bewohner leben daher nur vom Ertrag der Viehzucht und
der Fischerei, also ausschliessend von Fleischkost. Wollte man
auch zugeben, dass viele der schönen Sagen von den Isländern
nur gehütet und aufbewahrt worden wären und dass sie aus der
altnordischen Heimath stammten, so lässt sich doch von einer
Mehrzahl nachweisen, dass sie in Island selbst ersonnen worden
sind, und selbst wenn sie aus Norwegen herrühren sollten, so
herrschte auch dort Fischfang und Viehzucht entschieden vor, in
früheren Zeiten noch viel stärker als jetzt. Daraus gewinnen wir
aber die Einsicht, dass die Thätigkeit der Phantasie ganz unab-
hängig davon ist, ob die tägliche Nahrung ausschliesslich aus
Pflanzen- oder Thierstoffen bestehe.

Die Zone der Religionsstifter.
aus dem plötzlich belebter Holzbilder gesprochen werden. Wenn
Buckle in den Zahlenschwelgereien der Hindu, mit ihren endlosen
Weltaltern, in ihrer Sprache selbst, die einen Ausdruck hat für
Ziffern, die mit 51 Stellen geschrieben werden, eine knechtische
Demuth für das hohe Alterthum erkennen will, so möchten wir
doch viel eher dahinter eine Art arithmetischer Liebhaberei suchen,
denn das Volk, welches mit hohen Grössenbegriffen so gierig
spielte, hat zugleich der menschlichen Gesittung auch das höchste
Bildungsmittel nach Erfindung der Schriftzeichen geschenkt, näm-
lich die Kunst, den Werth der Zahlen durch ihre Stellung zu be-
zeichnen, oder wie wir nachlässig uns auszudrücken gewöhnt
haben, die Erfindung der arabischen Ziffern.

Es liegt sehr nahe und wird hier nicht zum erstenmale
ausgesprochen, dass die Schöpfung der religiösen und der
profanen Märchen nur als verschiedene Aeusserungen derselben
geistigen Befähigung zu denken sind. Völker von epischer und
dramatischer Zeugungskraft, Völker, die gern bauen, malen und
meiseln, besitzen auch die Gabe und den Drang, einen Olymp
mit mancherlei Gestalten zu bevölkern, mit heiteren oder düsteren,
je nach den vorherrschenden Gemüthsstimmungen. Nun aber
lässt sich leicht zeigen, dass die Märchenschöpfung nicht ein aus-
schliessliches Eigenthum von reisessenden Hindu sei. Märchen
und Sagen von ergreifender Wirkung werden namentlich in Island
gesammelt unter einer an Zahl sehr spärlichen Bevölkerung. In
Island reift kein Getreide mehr und wächst nur Buschwerk, denn
ein einziger geschützt stehender Maulbeerbaum in Akreyri wird
von den Eingebornen mit Stolz als der Baum der Insel gezeigt.
Die Bewohner leben daher nur vom Ertrag der Viehzucht und
der Fischerei, also ausschliessend von Fleischkost. Wollte man
auch zugeben, dass viele der schönen Sagen von den Isländern
nur gehütet und aufbewahrt worden wären und dass sie aus der
altnordischen Heimath stammten, so lässt sich doch von einer
Mehrzahl nachweisen, dass sie in Island selbst ersonnen worden
sind, und selbst wenn sie aus Norwegen herrühren sollten, so
herrschte auch dort Fischfang und Viehzucht entschieden vor, in
früheren Zeiten noch viel stärker als jetzt. Daraus gewinnen wir
aber die Einsicht, dass die Thätigkeit der Phantasie ganz unab-
hängig davon ist, ob die tägliche Nahrung ausschliesslich aus
Pflanzen- oder Thierstoffen bestehe.

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[331/0349] Die Zone der Religionsstifter. aus dem plötzlich belebter Holzbilder gesprochen werden. Wenn Buckle in den Zahlenschwelgereien der Hindu, mit ihren endlosen Weltaltern, in ihrer Sprache selbst, die einen Ausdruck hat für Ziffern, die mit 51 Stellen geschrieben werden, eine knechtische Demuth für das hohe Alterthum erkennen will, so möchten wir doch viel eher dahinter eine Art arithmetischer Liebhaberei suchen, denn das Volk, welches mit hohen Grössenbegriffen so gierig spielte, hat zugleich der menschlichen Gesittung auch das höchste Bildungsmittel nach Erfindung der Schriftzeichen geschenkt, näm- lich die Kunst, den Werth der Zahlen durch ihre Stellung zu be- zeichnen, oder wie wir nachlässig uns auszudrücken gewöhnt haben, die Erfindung der arabischen Ziffern. Es liegt sehr nahe und wird hier nicht zum erstenmale ausgesprochen, dass die Schöpfung der religiösen und der profanen Märchen nur als verschiedene Aeusserungen derselben geistigen Befähigung zu denken sind. Völker von epischer und dramatischer Zeugungskraft, Völker, die gern bauen, malen und meiseln, besitzen auch die Gabe und den Drang, einen Olymp mit mancherlei Gestalten zu bevölkern, mit heiteren oder düsteren, je nach den vorherrschenden Gemüthsstimmungen. Nun aber lässt sich leicht zeigen, dass die Märchenschöpfung nicht ein aus- schliessliches Eigenthum von reisessenden Hindu sei. Märchen und Sagen von ergreifender Wirkung werden namentlich in Island gesammelt unter einer an Zahl sehr spärlichen Bevölkerung. In Island reift kein Getreide mehr und wächst nur Buschwerk, denn ein einziger geschützt stehender Maulbeerbaum in Akreyri wird von den Eingebornen mit Stolz als der Baum der Insel gezeigt. Die Bewohner leben daher nur vom Ertrag der Viehzucht und der Fischerei, also ausschliessend von Fleischkost. Wollte man auch zugeben, dass viele der schönen Sagen von den Isländern nur gehütet und aufbewahrt worden wären und dass sie aus der altnordischen Heimath stammten, so lässt sich doch von einer Mehrzahl nachweisen, dass sie in Island selbst ersonnen worden sind, und selbst wenn sie aus Norwegen herrühren sollten, so herrschte auch dort Fischfang und Viehzucht entschieden vor, in früheren Zeiten noch viel stärker als jetzt. Daraus gewinnen wir aber die Einsicht, dass die Thätigkeit der Phantasie ganz unab- hängig davon ist, ob die tägliche Nahrung ausschliesslich aus Pflanzen- oder Thierstoffen bestehe.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/349>, abgerufen am 24.04.2024.