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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Zone der Religionsstifter.
Hintergrund, den Schneevulkane zieren, seinem ewig heitern Wetter
und seiner erquickenden Höhenluft. Und dennoch hat unter diesem
Wonnehimmel der schwermüthige Sinn der Eingebornen Anahuacs
alle Schrecken eines finstern, blutigen Götterdienstes ausgebrütet.

Versuchen wir darum lieber zu ergründen, ob nicht die
übliche Volksernährung mit den Gemüthserscheinungen in einem
ursächlichen Zusammenhange stehe. Hindostan, der Heerd der
brahmanischen Religion, und Mittelchina, die Heimat des Con-
futse, bescheint beinahe die nämliche Sonne und bedeckt ein ähn-
liches Pflanzenkleid. Die Natur, müsste Buckle zugeben, ist an
beiden Orten gleich gross und fast gleich schrecklich, von Süd-
china wenigstens lässt sich dies mit grosser Strenge behaupten, und
doch hat die Einbildungskraft im Reiche der Himmlischen einen
ganz andern Flug genommen, wie in Indien, oder sie hat vielmehr
beinahe keinen Flug genommen. Nun sind die Chinesen panto-
phag, das heisst sie essen alles, selbst Holothurien (Trepang), bei
deren Anblick schon den Ungewohnten ein Schauder überläuft.
Die strenggläubigen Hindu der höheren Kasten verabscheuen da-
gegen aufs strengste alle Fleischnahrung. Doch hielten sie es
nicht immer so. In den Zeiten der Veden war der Genuss ani-
malischer Kost noch nicht verboten und zugleich war die vedische
Religion noch nicht verdüstert durch die Schöpfung blutgieriger
Götzen, noch nicht erfüllt mit Schrecken und Grauen, wie in den
späteren epischen Zeiten. Die Belastung der Gemüther, die Nei-
gung zum Ungeheuerlichen und Grotesken, die Lebensübersättigung,
das Grauen vor der endlosen Kette der Wiedergeburten begann
sich bei den Hindu zu entwickeln mit dem gleichzeitigen Ueber-
gang zur reinen Pflanzenkost. Dass unsere geistige Thätigkeit
aber von der Ernährung abhängig sei, kann jedermann an sich
selbst wahrgenommen haben, denn der tiefe erquickende Schlaf,
der echte Schlaf ohne Bewusstsein, flieht uns bei stark überladenem
Magen. Aber auch der Hunger, die halbe und ungenügende Be-
friedigung, erstrecken, wie alle Begierden, ihre Herrschaft über die
Einbildungskraft. Auf dieser biologischen Wahrnehmung beruhten
und beruhen noch die strengen Fastenübungen, die von so ver-
schiedenen Religionssatzungen vorgeschrieben werden und deren
sich die Schamanen aller Welttheile bedienen, wenn sie mit un-
sichtbaren Mächten in Verkehr treten wollen. So oft der Kreis-
lauf der gewöhnlichen Ernährung unterbrochen oder nur gestört

Die Zone der Religionsstifter.
Hintergrund, den Schneevulkane zieren, seinem ewig heitern Wetter
und seiner erquickenden Höhenluft. Und dennoch hat unter diesem
Wonnehimmel der schwermüthige Sinn der Eingebornen Anáhuacs
alle Schrecken eines finstern, blutigen Götterdienstes ausgebrütet.

Versuchen wir darum lieber zu ergründen, ob nicht die
übliche Volksernährung mit den Gemüthserscheinungen in einem
ursächlichen Zusammenhange stehe. Hindostan, der Heerd der
brahmanischen Religion, und Mittelchina, die Heimat des Con-
futse, bescheint beinahe die nämliche Sonne und bedeckt ein ähn-
liches Pflanzenkleid. Die Natur, müsste Buckle zugeben, ist an
beiden Orten gleich gross und fast gleich schrecklich, von Süd-
china wenigstens lässt sich dies mit grosser Strenge behaupten, und
doch hat die Einbildungskraft im Reiche der Himmlischen einen
ganz andern Flug genommen, wie in Indien, oder sie hat vielmehr
beinahe keinen Flug genommen. Nun sind die Chinesen panto-
phag, das heisst sie essen alles, selbst Holothurien (Trepang), bei
deren Anblick schon den Ungewohnten ein Schauder überläuft.
Die strenggläubigen Hindu der höheren Kasten verabscheuen da-
gegen aufs strengste alle Fleischnahrung. Doch hielten sie es
nicht immer so. In den Zeiten der Veden war der Genuss ani-
malischer Kost noch nicht verboten und zugleich war die vedische
Religion noch nicht verdüstert durch die Schöpfung blutgieriger
Götzen, noch nicht erfüllt mit Schrecken und Grauen, wie in den
späteren epischen Zeiten. Die Belastung der Gemüther, die Nei-
gung zum Ungeheuerlichen und Grotesken, die Lebensübersättigung,
das Grauen vor der endlosen Kette der Wiedergeburten begann
sich bei den Hindu zu entwickeln mit dem gleichzeitigen Ueber-
gang zur reinen Pflanzenkost. Dass unsere geistige Thätigkeit
aber von der Ernährung abhängig sei, kann jedermann an sich
selbst wahrgenommen haben, denn der tiefe erquickende Schlaf,
der echte Schlaf ohne Bewusstsein, flieht uns bei stark überladenem
Magen. Aber auch der Hunger, die halbe und ungenügende Be-
friedigung, erstrecken, wie alle Begierden, ihre Herrschaft über die
Einbildungskraft. Auf dieser biologischen Wahrnehmung beruhten
und beruhen noch die strengen Fastenübungen, die von so ver-
schiedenen Religionssatzungen vorgeschrieben werden und deren
sich die Schamanen aller Welttheile bedienen, wenn sie mit un-
sichtbaren Mächten in Verkehr treten wollen. So oft der Kreis-
lauf der gewöhnlichen Ernährung unterbrochen oder nur gestört

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[328/0346] Die Zone der Religionsstifter. Hintergrund, den Schneevulkane zieren, seinem ewig heitern Wetter und seiner erquickenden Höhenluft. Und dennoch hat unter diesem Wonnehimmel der schwermüthige Sinn der Eingebornen Anáhuacs alle Schrecken eines finstern, blutigen Götterdienstes ausgebrütet. Versuchen wir darum lieber zu ergründen, ob nicht die übliche Volksernährung mit den Gemüthserscheinungen in einem ursächlichen Zusammenhange stehe. Hindostan, der Heerd der brahmanischen Religion, und Mittelchina, die Heimat des Con- futse, bescheint beinahe die nämliche Sonne und bedeckt ein ähn- liches Pflanzenkleid. Die Natur, müsste Buckle zugeben, ist an beiden Orten gleich gross und fast gleich schrecklich, von Süd- china wenigstens lässt sich dies mit grosser Strenge behaupten, und doch hat die Einbildungskraft im Reiche der Himmlischen einen ganz andern Flug genommen, wie in Indien, oder sie hat vielmehr beinahe keinen Flug genommen. Nun sind die Chinesen panto- phag, das heisst sie essen alles, selbst Holothurien (Trepang), bei deren Anblick schon den Ungewohnten ein Schauder überläuft. Die strenggläubigen Hindu der höheren Kasten verabscheuen da- gegen aufs strengste alle Fleischnahrung. Doch hielten sie es nicht immer so. In den Zeiten der Veden war der Genuss ani- malischer Kost noch nicht verboten und zugleich war die vedische Religion noch nicht verdüstert durch die Schöpfung blutgieriger Götzen, noch nicht erfüllt mit Schrecken und Grauen, wie in den späteren epischen Zeiten. Die Belastung der Gemüther, die Nei- gung zum Ungeheuerlichen und Grotesken, die Lebensübersättigung, das Grauen vor der endlosen Kette der Wiedergeburten begann sich bei den Hindu zu entwickeln mit dem gleichzeitigen Ueber- gang zur reinen Pflanzenkost. Dass unsere geistige Thätigkeit aber von der Ernährung abhängig sei, kann jedermann an sich selbst wahrgenommen haben, denn der tiefe erquickende Schlaf, der echte Schlaf ohne Bewusstsein, flieht uns bei stark überladenem Magen. Aber auch der Hunger, die halbe und ungenügende Be- friedigung, erstrecken, wie alle Begierden, ihre Herrschaft über die Einbildungskraft. Auf dieser biologischen Wahrnehmung beruhten und beruhen noch die strengen Fastenübungen, die von so ver- schiedenen Religionssatzungen vorgeschrieben werden und deren sich die Schamanen aller Welttheile bedienen, wenn sie mit un- sichtbaren Mächten in Verkehr treten wollen. So oft der Kreis- lauf der gewöhnlichen Ernährung unterbrochen oder nur gestört

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/346>, abgerufen am 25.04.2024.