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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Zone der Religionsstifter.
Buckle Pestilenzen in dem tropischen Asien mit vorzugsweise zer-
malmendem Tritt einherschreiten lässt, so dachte er dabei doch
nur an die Cholera, die, just als er schrieb, in Europa einen er-
neuten Umzug hielt. Allein unser Welttheil ist in vorigen Zeiten
von Würgengeln betreten worden, die mit der ziemlich modernen
Brechruhr in Indien sich leicht messen können, von dem schwarzen
Tod und der Pest, es wurde also die gemässigte Zone nicht mehr
verschont als die tropische. Seltsamerweise nennt der Schotte gar
nicht Indiens schrecklichsten Genius, nämlich den Hunger, den
rüstigsten der Todtengräber, der zeitweise, wenn die Regen fehlen
oder die Ströme sparsam rinnen, selbst noch heutigen Tages
grössere Verheerungen anstiftet, als alle Pestilenzen und Wirbel-
stürme, ja dicht bevölkerte Striche in Einöden verwandelt, wie
gleich am Beginn der britischen Herrschaft in Folge eines Miss-
wachses, 1770, zehn von fünfundzwanzig Millionen Bengalesen dahin-
sanken. Ueben die Drohungen und Beängstigungen, welche mit
irgend einem Wohnort verknüpft sind, über die Gemüther einer Be-
völkerung jene Herrschaft aus, die ihnen Buckle zumuthet, so müssten
die Holländer viel wundergläubiger sein, als die Belgier. Ihnen
droht beständig und ganz vorzüglich zur Zeit der Syzygien des
Mondes ein Gegner, der so wenig Erbarmen kennt als das Erd-
beben, nämlich das Meer, das sie als Bewohner unterseeischer
Fluren um ein Erbstück geschmälert haben. Oft genug schon hat
sich die verdrängte Macht gerächt, wie damals, als die Zuyder
See und der Dollart durch plötzliche Einbrüche sich füllten und
alle Ortschaften sammt ihren Bewohnern hinabschlangen. Endlich
sollten in dem nämlichen Volk unter allen Gewerbtreibenden den
meisten Aberglauben die Seefahrer und die Bergleute nähren, weil
sie mehr als andere sich den Launen unberechenbarer Natur-
gewalten preisgeben, und doch hat niemand behauptet, dass so
etwas in bemerkbarer Stärke der Fall wäre.

Wir müssen also wohl eingestehen, dass die grösseren Lebens-
bedrohungen an irgend einem Wohnorte nicht die übermässige
Entwicklung der Einbildungskraft verschuldet haben. Selbst
Alexander v. Humboldt's schöne Worte von der Rückwirkung des
griechischen Himmels auf die hellenische Gemüthsstimmung erregen
uns Bedenken. Wenn einem Fleck der Erde vor andern der
Name eines Paradieses gebührt, so ist es sicherlich Mexico mit
seinen Seen, seinem Pflanzenschmuck, seinem landschaftlichen

Die Zone der Religionsstifter.
Buckle Pestilenzen in dem tropischen Asien mit vorzugsweise zer-
malmendem Tritt einherschreiten lässt, so dachte er dabei doch
nur an die Cholera, die, just als er schrieb, in Europa einen er-
neuten Umzug hielt. Allein unser Welttheil ist in vorigen Zeiten
von Würgengeln betreten worden, die mit der ziemlich modernen
Brechruhr in Indien sich leicht messen können, von dem schwarzen
Tod und der Pest, es wurde also die gemässigte Zone nicht mehr
verschont als die tropische. Seltsamerweise nennt der Schotte gar
nicht Indiens schrecklichsten Genius, nämlich den Hunger, den
rüstigsten der Todtengräber, der zeitweise, wenn die Regen fehlen
oder die Ströme sparsam rinnen, selbst noch heutigen Tages
grössere Verheerungen anstiftet, als alle Pestilenzen und Wirbel-
stürme, ja dicht bevölkerte Striche in Einöden verwandelt, wie
gleich am Beginn der britischen Herrschaft in Folge eines Miss-
wachses, 1770, zehn von fünfundzwanzig Millionen Bengalesen dahin-
sanken. Ueben die Drohungen und Beängstigungen, welche mit
irgend einem Wohnort verknüpft sind, über die Gemüther einer Be-
völkerung jene Herrschaft aus, die ihnen Buckle zumuthet, so müssten
die Holländer viel wundergläubiger sein, als die Belgier. Ihnen
droht beständig und ganz vorzüglich zur Zeit der Syzygien des
Mondes ein Gegner, der so wenig Erbarmen kennt als das Erd-
beben, nämlich das Meer, das sie als Bewohner unterseeischer
Fluren um ein Erbstück geschmälert haben. Oft genug schon hat
sich die verdrängte Macht gerächt, wie damals, als die Zuyder
See und der Dollart durch plötzliche Einbrüche sich füllten und
alle Ortschaften sammt ihren Bewohnern hinabschlangen. Endlich
sollten in dem nämlichen Volk unter allen Gewerbtreibenden den
meisten Aberglauben die Seefahrer und die Bergleute nähren, weil
sie mehr als andere sich den Launen unberechenbarer Natur-
gewalten preisgeben, und doch hat niemand behauptet, dass so
etwas in bemerkbarer Stärke der Fall wäre.

Wir müssen also wohl eingestehen, dass die grösseren Lebens-
bedrohungen an irgend einem Wohnorte nicht die übermässige
Entwicklung der Einbildungskraft verschuldet haben. Selbst
Alexander v. Humboldt’s schöne Worte von der Rückwirkung des
griechischen Himmels auf die hellenische Gemüthsstimmung erregen
uns Bedenken. Wenn einem Fleck der Erde vor andern der
Name eines Paradieses gebührt, so ist es sicherlich Mexico mit
seinen Seen, seinem Pflanzenschmuck, seinem landschaftlichen

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[327/0345] Die Zone der Religionsstifter. Buckle Pestilenzen in dem tropischen Asien mit vorzugsweise zer- malmendem Tritt einherschreiten lässt, so dachte er dabei doch nur an die Cholera, die, just als er schrieb, in Europa einen er- neuten Umzug hielt. Allein unser Welttheil ist in vorigen Zeiten von Würgengeln betreten worden, die mit der ziemlich modernen Brechruhr in Indien sich leicht messen können, von dem schwarzen Tod und der Pest, es wurde also die gemässigte Zone nicht mehr verschont als die tropische. Seltsamerweise nennt der Schotte gar nicht Indiens schrecklichsten Genius, nämlich den Hunger, den rüstigsten der Todtengräber, der zeitweise, wenn die Regen fehlen oder die Ströme sparsam rinnen, selbst noch heutigen Tages grössere Verheerungen anstiftet, als alle Pestilenzen und Wirbel- stürme, ja dicht bevölkerte Striche in Einöden verwandelt, wie gleich am Beginn der britischen Herrschaft in Folge eines Miss- wachses, 1770, zehn von fünfundzwanzig Millionen Bengalesen dahin- sanken. Ueben die Drohungen und Beängstigungen, welche mit irgend einem Wohnort verknüpft sind, über die Gemüther einer Be- völkerung jene Herrschaft aus, die ihnen Buckle zumuthet, so müssten die Holländer viel wundergläubiger sein, als die Belgier. Ihnen droht beständig und ganz vorzüglich zur Zeit der Syzygien des Mondes ein Gegner, der so wenig Erbarmen kennt als das Erd- beben, nämlich das Meer, das sie als Bewohner unterseeischer Fluren um ein Erbstück geschmälert haben. Oft genug schon hat sich die verdrängte Macht gerächt, wie damals, als die Zuyder See und der Dollart durch plötzliche Einbrüche sich füllten und alle Ortschaften sammt ihren Bewohnern hinabschlangen. Endlich sollten in dem nämlichen Volk unter allen Gewerbtreibenden den meisten Aberglauben die Seefahrer und die Bergleute nähren, weil sie mehr als andere sich den Launen unberechenbarer Natur- gewalten preisgeben, und doch hat niemand behauptet, dass so etwas in bemerkbarer Stärke der Fall wäre. Wir müssen also wohl eingestehen, dass die grösseren Lebens- bedrohungen an irgend einem Wohnorte nicht die übermässige Entwicklung der Einbildungskraft verschuldet haben. Selbst Alexander v. Humboldt’s schöne Worte von der Rückwirkung des griechischen Himmels auf die hellenische Gemüthsstimmung erregen uns Bedenken. Wenn einem Fleck der Erde vor andern der Name eines Paradieses gebührt, so ist es sicherlich Mexico mit seinen Seen, seinem Pflanzenschmuck, seinem landschaftlichen

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/345>, abgerufen am 20.04.2024.