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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Zone der Religionsstifter.
in die physische Weltordnung erhalten. Dass Portugal unter die
erdbebenreichsten Länder gerechnet wird, mag die schwere Kata-
strophe, welche Lissabon vor mehr als 100 Jahren betraf, einiger-
massen rechtfertigen, obgleich sie in ihrer Grossartigkeit vereinzelt
steht, aber Spanien, obgleich nicht gänzlich verschont, gehört doch
nicht unter die vorzugsweise oder nur streng heimgesuchten
Länder. Japan, welches so oft unter dem Dreizack des Poseidon
erzittern muss, wird von einem heitern, zu Schelmerei und Kurz-
weil stets aufgelegten und in religiösen Dingen sorglosen Menschen-
schlag bewohnt. Russland wiederum ist fast gänzlich frei von
Erdbeben, aber von einem Exorcismenspuk, wie er in der grie-
chischen Kirche noch vorherrscht, ist Italien doch schon längst
gereinigt.

Unter den Tropen, fährt Buckle fort, trete die Natur gewalt-
samer und schrecklicher dem menschlichen Kleinmuth gegenüber,
daher habe sich bei den Bewohnern Indiens die Einbildungskraft
am meisten mit Wahngeburten bevölkert. "Dort waren", behauptet
er, "Lebenshindernisse jeder Art so zahlreich, so beunruhigend
und scheinbar so unerklärlich, dass die Tagesbeschwerden nur
durch beständiges Gnadenerflehen an die unmittelbare Thätigkeit
übernatürlicher Kräfte gehoben werden konnten". Dort erschaute
die beängstigte Einbildungskraft solche Schaudergestalten wie
Civa oder seine Gemahlin Durga-Kali, deren innere Handflächen
von frischem Blute sich beständig rötheten und deren Nacken
eine Schnur von Menschenschädeln zierte.

Da sich die indische Cultur vorzugsweise im eigentlichen
Hindostan, also in dem Gangesgebiet mit Ausschluss Bengalens,
entwickelte, so hätte nach Buckle die Natur dort ganz besonders
die Gemüther der Bewohner mit Furcht und Grausen erfüllen
müssen. Erdbeben kommen freilich nicht vor, einen Ersatz für
sie sollen wir jedoch in den furchtbaren Orkanen finden. Ganz
sicherlich ist auch der bengalische Meerbusen die Brutstätte jener
Cyklone oder Wirbelstürme, welche im vorigen Jahrzehnt zweimal
die Stadt Calcutta heimsuchten. Die Tragweite jener Geisseln ist
jedoch nur auf die Küste beschränkt und ihre Verheerungen über-
schreiten nie die Grenze Bengalens. Auch der Himalaya soll
nach Buckle einschüchternd gewirkt haben, allein er ist von den
dicht bewohnten Strichen entweder gar nicht sichtbar oder nur als
eine anmuthige Begrenzung des nördlichen Horizonts. Wenn

Die Zone der Religionsstifter.
in die physische Weltordnung erhalten. Dass Portugal unter die
erdbebenreichsten Länder gerechnet wird, mag die schwere Kata-
strophe, welche Lissabon vor mehr als 100 Jahren betraf, einiger-
massen rechtfertigen, obgleich sie in ihrer Grossartigkeit vereinzelt
steht, aber Spanien, obgleich nicht gänzlich verschont, gehört doch
nicht unter die vorzugsweise oder nur streng heimgesuchten
Länder. Japan, welches so oft unter dem Dreizack des Poseidon
erzittern muss, wird von einem heitern, zu Schelmerei und Kurz-
weil stets aufgelegten und in religiösen Dingen sorglosen Menschen-
schlag bewohnt. Russland wiederum ist fast gänzlich frei von
Erdbeben, aber von einem Exorcismenspuk, wie er in der grie-
chischen Kirche noch vorherrscht, ist Italien doch schon längst
gereinigt.

Unter den Tropen, fährt Buckle fort, trete die Natur gewalt-
samer und schrecklicher dem menschlichen Kleinmuth gegenüber,
daher habe sich bei den Bewohnern Indiens die Einbildungskraft
am meisten mit Wahngeburten bevölkert. „Dort waren“, behauptet
er, „Lebenshindernisse jeder Art so zahlreich, so beunruhigend
und scheinbar so unerklärlich, dass die Tagesbeschwerden nur
durch beständiges Gnadenerflehen an die unmittelbare Thätigkeit
übernatürlicher Kräfte gehoben werden konnten“. Dort erschaute
die beängstigte Einbildungskraft solche Schaudergestalten wie
Çiva oder seine Gemahlin Durga-Kali, deren innere Handflächen
von frischem Blute sich beständig rötheten und deren Nacken
eine Schnur von Menschenschädeln zierte.

Da sich die indische Cultur vorzugsweise im eigentlichen
Hindostan, also in dem Gangesgebiet mit Ausschluss Bengalens,
entwickelte, so hätte nach Buckle die Natur dort ganz besonders
die Gemüther der Bewohner mit Furcht und Grausen erfüllen
müssen. Erdbeben kommen freilich nicht vor, einen Ersatz für
sie sollen wir jedoch in den furchtbaren Orkanen finden. Ganz
sicherlich ist auch der bengalische Meerbusen die Brutstätte jener
Cyklone oder Wirbelstürme, welche im vorigen Jahrzehnt zweimal
die Stadt Calcutta heimsuchten. Die Tragweite jener Geisseln ist
jedoch nur auf die Küste beschränkt und ihre Verheerungen über-
schreiten nie die Grenze Bengalens. Auch der Himalaya soll
nach Buckle einschüchternd gewirkt haben, allein er ist von den
dicht bewohnten Strichen entweder gar nicht sichtbar oder nur als
eine anmuthige Begrenzung des nördlichen Horizonts. Wenn

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[326/0344] Die Zone der Religionsstifter. in die physische Weltordnung erhalten. Dass Portugal unter die erdbebenreichsten Länder gerechnet wird, mag die schwere Kata- strophe, welche Lissabon vor mehr als 100 Jahren betraf, einiger- massen rechtfertigen, obgleich sie in ihrer Grossartigkeit vereinzelt steht, aber Spanien, obgleich nicht gänzlich verschont, gehört doch nicht unter die vorzugsweise oder nur streng heimgesuchten Länder. Japan, welches so oft unter dem Dreizack des Poseidon erzittern muss, wird von einem heitern, zu Schelmerei und Kurz- weil stets aufgelegten und in religiösen Dingen sorglosen Menschen- schlag bewohnt. Russland wiederum ist fast gänzlich frei von Erdbeben, aber von einem Exorcismenspuk, wie er in der grie- chischen Kirche noch vorherrscht, ist Italien doch schon längst gereinigt. Unter den Tropen, fährt Buckle fort, trete die Natur gewalt- samer und schrecklicher dem menschlichen Kleinmuth gegenüber, daher habe sich bei den Bewohnern Indiens die Einbildungskraft am meisten mit Wahngeburten bevölkert. „Dort waren“, behauptet er, „Lebenshindernisse jeder Art so zahlreich, so beunruhigend und scheinbar so unerklärlich, dass die Tagesbeschwerden nur durch beständiges Gnadenerflehen an die unmittelbare Thätigkeit übernatürlicher Kräfte gehoben werden konnten“. Dort erschaute die beängstigte Einbildungskraft solche Schaudergestalten wie Çiva oder seine Gemahlin Durga-Kali, deren innere Handflächen von frischem Blute sich beständig rötheten und deren Nacken eine Schnur von Menschenschädeln zierte. Da sich die indische Cultur vorzugsweise im eigentlichen Hindostan, also in dem Gangesgebiet mit Ausschluss Bengalens, entwickelte, so hätte nach Buckle die Natur dort ganz besonders die Gemüther der Bewohner mit Furcht und Grausen erfüllen müssen. Erdbeben kommen freilich nicht vor, einen Ersatz für sie sollen wir jedoch in den furchtbaren Orkanen finden. Ganz sicherlich ist auch der bengalische Meerbusen die Brutstätte jener Cyklone oder Wirbelstürme, welche im vorigen Jahrzehnt zweimal die Stadt Calcutta heimsuchten. Die Tragweite jener Geisseln ist jedoch nur auf die Küste beschränkt und ihre Verheerungen über- schreiten nie die Grenze Bengalens. Auch der Himalaya soll nach Buckle einschüchternd gewirkt haben, allein er ist von den dicht bewohnten Strichen entweder gar nicht sichtbar oder nur als eine anmuthige Begrenzung des nördlichen Horizonts. Wenn

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/344>, abgerufen am 16.04.2024.