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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Islam.
dessen Schwester, für welche er den heiligen Geist ansah, ja
selbst die fleckenlose Empfängniss der Jungfrau Maria gehörte zu
seinen Glaubenssätzen1). Der Prophet war anfangs auf dem Wege
eine judenchristliche Gemeinde unter den Arabern zu stiften. Da
er aber wahrscheinlich nie lesen konnte, widerfuhr es ihm häufig,
dass er sich auf das alte Testament und die Evangelien aus Miss-
verständniss berief. Als ihm solche Irrthümer vorgehalten wurden,
rettete er sich durch die Ausflucht, die seitdem im Munde aller
Moslimen fortlebt, dass die Offenbarungen im alten und neuen
Testament zwar göttlichen Ursprungs gewesen, aber aus Eigen-
nutz und Lasterhaftigkeit von Juden und Christen dermassen ver-
dreht und verdorben worden seien, dass sie nun frisch und un-
verfälscht wieder dem Propheten offenbart werden mussten. "Dir
Mohammed, heisst es in der fünften Sure, haben wir das Buch
der Wahrheit gegeben welches das Gesetz Mose's und das Evan-
gelium bestätigt. Hätte es Gott beliebt, so hätte er aus euch, ihr
Völker, ein Volk gemacht; so aber hat er euch durch verschiedne
Gesetze von einander unterschieden, um eines jeden Gehorsam
gegen das ihm offenbarte Gesetz zu prüfen2)." Später jedoch
war von dieser Duldung und Gleichberechtigung nicht mehr die
Rede. Am 16. Januar 624 befahl der Prophet die Qibla oder die
Richtung in welcher die Gebete gesprochen werden sollten zu
ändern, früher musste das Gesicht gegen Jerusalem, jetzt sollte es
gegen Mekka gekehrt werden, obgleich der Prophet noch in der-
selben Sure, die diese Anordnung einschärft, wie zur Beruhigung
seines Gewissens hinzufügt: Ihr mögt euer Gebet richten, wohin
ihr wollt: überall ist Gott da, denn Gott ist allgegenwärtig und
allwissend3). Gegen christliche Glaubenssätze, vorzüglich gegen
die Dreieinigkeitslehre wurde die 112. Sure geschleudert, welche
das Bekenntniss der Moslimen erschöpft und bei dem heiligsten
Momente der Pilgerfahrt, beim Küssen des schwarzen Steines in
der Ka'aba gesprochen werden soll. Sie lautet bekanntlich:
"Sprich: Gott ist einer! Der ewige Gott! Er zeugt nicht, ist
auch nicht gezeugt! Kein Wesen ist ihm gleich!"

Die sittliche Ordnung, welche der Prophet auf seine Sendung

1) Qoran, Sure 21. ed. Wahl. S. 284.
2) Qoran, übersetzt von Wahl. S. 91.
3) Qoran, übersetzt von Wahl. S. 20--24.

Der Islâm.
dessen Schwester, für welche er den heiligen Geist ansah, ja
selbst die fleckenlose Empfängniss der Jungfrau Maria gehörte zu
seinen Glaubenssätzen1). Der Prophet war anfangs auf dem Wege
eine judenchristliche Gemeinde unter den Arabern zu stiften. Da
er aber wahrscheinlich nie lesen konnte, widerfuhr es ihm häufig,
dass er sich auf das alte Testament und die Evangelien aus Miss-
verständniss berief. Als ihm solche Irrthümer vorgehalten wurden,
rettete er sich durch die Ausflucht, die seitdem im Munde aller
Moslimen fortlebt, dass die Offenbarungen im alten und neuen
Testament zwar göttlichen Ursprungs gewesen, aber aus Eigen-
nutz und Lasterhaftigkeit von Juden und Christen dermassen ver-
dreht und verdorben worden seien, dass sie nun frisch und un-
verfälscht wieder dem Propheten offenbart werden mussten. „Dir
Mohammed, heisst es in der fünften Sure, haben wir das Buch
der Wahrheit gegeben welches das Gesetz Mose’s und das Evan-
gelium bestätigt. Hätte es Gott beliebt, so hätte er aus euch, ihr
Völker, ein Volk gemacht; so aber hat er euch durch verschiedne
Gesetze von einander unterschieden, um eines jeden Gehorsam
gegen das ihm offenbarte Gesetz zu prüfen2).“ Später jedoch
war von dieser Duldung und Gleichberechtigung nicht mehr die
Rede. Am 16. Januar 624 befahl der Prophet die Qibla oder die
Richtung in welcher die Gebete gesprochen werden sollten zu
ändern, früher musste das Gesicht gegen Jerusalem, jetzt sollte es
gegen Mekka gekehrt werden, obgleich der Prophet noch in der-
selben Sure, die diese Anordnung einschärft, wie zur Beruhigung
seines Gewissens hinzufügt: Ihr mögt euer Gebet richten, wohin
ihr wollt: überall ist Gott da, denn Gott ist allgegenwärtig und
allwissend3). Gegen christliche Glaubenssätze, vorzüglich gegen
die Dreieinigkeitslehre wurde die 112. Sure geschleudert, welche
das Bekenntniss der Moslimen erschöpft und bei dem heiligsten
Momente der Pilgerfahrt, beim Küssen des schwarzen Steines in
der Ka‘aba gesprochen werden soll. Sie lautet bekanntlich:
„Sprich: Gott ist einer! Der ewige Gott! Er zeugt nicht, ist
auch nicht gezeugt! Kein Wesen ist ihm gleich!“

Die sittliche Ordnung, welche der Prophet auf seine Sendung

1) Qorân, Sure 21. ed. Wahl. S. 284.
2) Qorân, übersetzt von Wahl. S. 91.
3) Qorân, übersetzt von Wahl. S. 20—24.
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[319/0337] Der Islâm. dessen Schwester, für welche er den heiligen Geist ansah, ja selbst die fleckenlose Empfängniss der Jungfrau Maria gehörte zu seinen Glaubenssätzen 1). Der Prophet war anfangs auf dem Wege eine judenchristliche Gemeinde unter den Arabern zu stiften. Da er aber wahrscheinlich nie lesen konnte, widerfuhr es ihm häufig, dass er sich auf das alte Testament und die Evangelien aus Miss- verständniss berief. Als ihm solche Irrthümer vorgehalten wurden, rettete er sich durch die Ausflucht, die seitdem im Munde aller Moslimen fortlebt, dass die Offenbarungen im alten und neuen Testament zwar göttlichen Ursprungs gewesen, aber aus Eigen- nutz und Lasterhaftigkeit von Juden und Christen dermassen ver- dreht und verdorben worden seien, dass sie nun frisch und un- verfälscht wieder dem Propheten offenbart werden mussten. „Dir Mohammed, heisst es in der fünften Sure, haben wir das Buch der Wahrheit gegeben welches das Gesetz Mose’s und das Evan- gelium bestätigt. Hätte es Gott beliebt, so hätte er aus euch, ihr Völker, ein Volk gemacht; so aber hat er euch durch verschiedne Gesetze von einander unterschieden, um eines jeden Gehorsam gegen das ihm offenbarte Gesetz zu prüfen 2).“ Später jedoch war von dieser Duldung und Gleichberechtigung nicht mehr die Rede. Am 16. Januar 624 befahl der Prophet die Qibla oder die Richtung in welcher die Gebete gesprochen werden sollten zu ändern, früher musste das Gesicht gegen Jerusalem, jetzt sollte es gegen Mekka gekehrt werden, obgleich der Prophet noch in der- selben Sure, die diese Anordnung einschärft, wie zur Beruhigung seines Gewissens hinzufügt: Ihr mögt euer Gebet richten, wohin ihr wollt: überall ist Gott da, denn Gott ist allgegenwärtig und allwissend 3). Gegen christliche Glaubenssätze, vorzüglich gegen die Dreieinigkeitslehre wurde die 112. Sure geschleudert, welche das Bekenntniss der Moslimen erschöpft und bei dem heiligsten Momente der Pilgerfahrt, beim Küssen des schwarzen Steines in der Ka‘aba gesprochen werden soll. Sie lautet bekanntlich: „Sprich: Gott ist einer! Der ewige Gott! Er zeugt nicht, ist auch nicht gezeugt! Kein Wesen ist ihm gleich!“ Die sittliche Ordnung, welche der Prophet auf seine Sendung 1) Qorân, Sure 21. ed. Wahl. S. 284. 2) Qorân, übersetzt von Wahl. S. 91. 3) Qorân, übersetzt von Wahl. S. 20—24.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/337>, abgerufen am 19.04.2024.