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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die christlichen Lehren.
der Neger und viele Leibeigenschaftssatzungen liessen sich damit
rechtfertigen, dass die Unfreien der Zucht, namentlich des Zwanges
zur Arbeit bedurften, dass sie selbst unter dem Drucke viel besser
gediehen und ein grosser Theil ihrer Leistungen nach der Frei-
sprechung für das Gesammtwesen verloren ging. Dennoch wird jedes
veredelte Herz diese schnöden Vortheile als zu theuer erkauft
halten, weil jeder Zwang ihm gehässig ist. Diese Empfindsamkeit
unseres Gewissens verdanken wir aber den Lehren der Evangelien,
welche uns in der Jugend eingeflösst worden sind.

Werden dem Christenthume seine Ketzerverfolgungen, seine
Inquisitionen, seine Religionskriege, überhaupt seine Unduldsamkeit
zur Last gelegt, so treffen die Vorwürfe doch nur diejenigen,
welche die Lehren der Milde in ihr Gegentheil verwandelten. Um
den sittlichen Inhalt des Christenthums hat sich aber nie Streit
erhoben, sondern nur um die Glaubenssätze, wie sie durch Con-
cilienbeschlüsse festgesetzt wurden. Christus selbst kämpfte mit
dem, was sich das rechtgläubige Judenthum hiess, er, der den
Sabbath um des Menschen willen vorhanden erklärte und gegen
Dogmenverfertiger das vernichtende Wort hinterlassen hat1): "Ver-
geblich dienen sie mir mit dem Verbreiten ihrer Lehrmeinungen,
Satzungen menschlichen Ursprungs".

Die Verächter der evangelischen Lehren in unserer Zeit über-
sehen gewöhnlich, dass alle menschenfreundlichen Bestrebungen
immer in der christlichen Lehre ihren stärksten Helfer gefunden
haben. Der Abschaffung der Negersklaverei wurde bereits gedacht,
aber auch die Bewilligung gleicher Rechte im öffentlichen Leben
für Alle hatte im christlichen Pflichtgefühl seinen wärmsten Für-
sprecher gefunden. Dem Gebote, Hungrige zu speisen und
Nackte zu kleiden, verdanken wir unsere heutige Armenpflege.
Manches andere, was uns in Evangelienlehren befremden mag,
kann vielleicht auf einem Missverständniss der Jünger beruhen oder
der Sinn der syrisch gesprochenen Worte hat beim Uebergang in
die griechische Sprache mehr oder weniger gelitten, oder die

beruht sicherlich auf abergläubischer Scheu oder geschah aus Liebhaberei, wie
die Häuptlinge der Fidschi-Inseln zu ihrem Vergnügen Krüppel fütterten.
Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 626.
1) Marcus VII, 7. Maten de sebontai me, didaskhontes didaskhalias,
entalmata anthropon.

Die christlichen Lehren.
der Neger und viele Leibeigenschaftssatzungen liessen sich damit
rechtfertigen, dass die Unfreien der Zucht, namentlich des Zwanges
zur Arbeit bedurften, dass sie selbst unter dem Drucke viel besser
gediehen und ein grosser Theil ihrer Leistungen nach der Frei-
sprechung für das Gesammtwesen verloren ging. Dennoch wird jedes
veredelte Herz diese schnöden Vortheile als zu theuer erkauft
halten, weil jeder Zwang ihm gehässig ist. Diese Empfindsamkeit
unseres Gewissens verdanken wir aber den Lehren der Evangelien,
welche uns in der Jugend eingeflösst worden sind.

Werden dem Christenthume seine Ketzerverfolgungen, seine
Inquisitionen, seine Religionskriege, überhaupt seine Unduldsamkeit
zur Last gelegt, so treffen die Vorwürfe doch nur diejenigen,
welche die Lehren der Milde in ihr Gegentheil verwandelten. Um
den sittlichen Inhalt des Christenthums hat sich aber nie Streit
erhoben, sondern nur um die Glaubenssätze, wie sie durch Con-
cilienbeschlüsse festgesetzt wurden. Christus selbst kämpfte mit
dem, was sich das rechtgläubige Judenthum hiess, er, der den
Sabbath um des Menschen willen vorhanden erklärte und gegen
Dogmenverfertiger das vernichtende Wort hinterlassen hat1): „Ver-
geblich dienen sie mir mit dem Verbreiten ihrer Lehrmeinungen,
Satzungen menschlichen Ursprungs“.

Die Verächter der evangelischen Lehren in unserer Zeit über-
sehen gewöhnlich, dass alle menschenfreundlichen Bestrebungen
immer in der christlichen Lehre ihren stärksten Helfer gefunden
haben. Der Abschaffung der Negersklaverei wurde bereits gedacht,
aber auch die Bewilligung gleicher Rechte im öffentlichen Leben
für Alle hatte im christlichen Pflichtgefühl seinen wärmsten Für-
sprecher gefunden. Dem Gebote, Hungrige zu speisen und
Nackte zu kleiden, verdanken wir unsere heutige Armenpflege.
Manches andere, was uns in Evangelienlehren befremden mag,
kann vielleicht auf einem Missverständniss der Jünger beruhen oder
der Sinn der syrisch gesprochenen Worte hat beim Uebergang in
die griechische Sprache mehr oder weniger gelitten, oder die

beruht sicherlich auf abergläubischer Scheu oder geschah aus Liebhaberei, wie
die Häuptlinge der Fidschi-Inseln zu ihrem Vergnügen Krüppel fütterten.
Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 626.
1) Marcus VII, 7. Μάτην δὲ σέβονταί με, διδάσχοντες διδασχαλίας,
ἐντάλματα ἀνϑρώπων.
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[315/0333] Die christlichen Lehren. der Neger und viele Leibeigenschaftssatzungen liessen sich damit rechtfertigen, dass die Unfreien der Zucht, namentlich des Zwanges zur Arbeit bedurften, dass sie selbst unter dem Drucke viel besser gediehen und ein grosser Theil ihrer Leistungen nach der Frei- sprechung für das Gesammtwesen verloren ging. Dennoch wird jedes veredelte Herz diese schnöden Vortheile als zu theuer erkauft halten, weil jeder Zwang ihm gehässig ist. Diese Empfindsamkeit unseres Gewissens verdanken wir aber den Lehren der Evangelien, welche uns in der Jugend eingeflösst worden sind. Werden dem Christenthume seine Ketzerverfolgungen, seine Inquisitionen, seine Religionskriege, überhaupt seine Unduldsamkeit zur Last gelegt, so treffen die Vorwürfe doch nur diejenigen, welche die Lehren der Milde in ihr Gegentheil verwandelten. Um den sittlichen Inhalt des Christenthums hat sich aber nie Streit erhoben, sondern nur um die Glaubenssätze, wie sie durch Con- cilienbeschlüsse festgesetzt wurden. Christus selbst kämpfte mit dem, was sich das rechtgläubige Judenthum hiess, er, der den Sabbath um des Menschen willen vorhanden erklärte und gegen Dogmenverfertiger das vernichtende Wort hinterlassen hat 1): „Ver- geblich dienen sie mir mit dem Verbreiten ihrer Lehrmeinungen, Satzungen menschlichen Ursprungs“. Die Verächter der evangelischen Lehren in unserer Zeit über- sehen gewöhnlich, dass alle menschenfreundlichen Bestrebungen immer in der christlichen Lehre ihren stärksten Helfer gefunden haben. Der Abschaffung der Negersklaverei wurde bereits gedacht, aber auch die Bewilligung gleicher Rechte im öffentlichen Leben für Alle hatte im christlichen Pflichtgefühl seinen wärmsten Für- sprecher gefunden. Dem Gebote, Hungrige zu speisen und Nackte zu kleiden, verdanken wir unsere heutige Armenpflege. Manches andere, was uns in Evangelienlehren befremden mag, kann vielleicht auf einem Missverständniss der Jünger beruhen oder der Sinn der syrisch gesprochenen Worte hat beim Uebergang in die griechische Sprache mehr oder weniger gelitten, oder die 2) 1) Marcus VII, 7. Μάτην δὲ σέβονταί με, διδάσχοντες διδασχαλίας, ἐντάλματα ἀνϑρώπων. 2) beruht sicherlich auf abergläubischer Scheu oder geschah aus Liebhaberei, wie die Häuptlinge der Fidschi-Inseln zu ihrem Vergnügen Krüppel fütterten. Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 626.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/333>, abgerufen am 23.04.2024.