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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die christlichen Lehren.
ein lebendiges Gespenst. Die Liebe zu Eltern und Kindern oder
Geschwistern, die im Grunde nichts ist als eine erweiterte Selbst-
liebe, soll sich auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen1).

Innerhalb der menschlichen Gesellschaft erzwingt sich das
bürgerliche Recht von selbst seine Beachtung. Die Fortschritte
unseres Geschlechtes beruhen auf einer so durchgebildeten Glie-
derung von Arbeiten und Leistungen, dass sie nicht denkbar sind
ohne strenge Beobachtung der Rechte Anderer. Wo sich der
Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abstumpft, geht jede Gesell-
schaft zu Grunde und die Weltgeschichte wird für sie zum Welt-
gericht. So ist schon durch diese unerbittliche sittliche Ordnung
für die bürgerliche Erziehung unseres Geschlechts gesorgt. Das
Christenthum aber erstrebt noch höheres als eine Verfeinerung
des menschlichen Geselligkeitstriebes. Von dem Reisenden Kennan
wird uns das milde Herz der Korjäken gerühmt: nie sah er ein
Kind schlagen, nie hörte er ein hartes Wort gegen eine Frau
fallen, aber die Altersschwachen und die hoffnungslosen Kranken
werden durch Lanzenstiche mit anatomischer Meisterschaft, Vater
oder Mutter gewöhnlich vom Sohne, umgebracht, denn die harte
Nothwendigkeit des Hirtenlebens verstattet keine Belastung der
wandernden Gemeinde mit den Hinfälligen, und der gesellige
Instinct setzt das Wohl der Genossenschaft über das Erbarmen gegen
den Einzelnen. Erkennen wir, dass solche Satzungen unverträglich
sind mit Christenpflichten, so gestehen wir damit, dass unsere
Sittenlehre sich über und bisweilen gegen den Gesellschaftstrieb
erhebt. Dass wir für Geisteskranke sorgen, kann als eine egoistische
Vorsicht betrachtet werden, denn Niemand weiss voraus, ob er
nicht selbst von diesem Schutz der Gesellschaft Nutzen ziehen
möchte. Wir verpflegen aber auch menschliche Missbildungen,
wie die Cretinen und Microcephalen. Sicherlich wäre es für die
Gesellschaft viel erspriesslicher, solche Geschöpfe ihrem Schick-
sal preiszugeben und den Aufwand, den ihre Pflege erheischt,
lieber zu nutzbringenden Zwecken zu verwenden. Wenn wir es
dennoch nicht thun, so befriedigen wir ein Pflichtgefühl, das sich
nicht aus unserem socialen Instincte ableiten lässt2). Die Sklaverei

1) Matth. X, 37; Marc. III, 33.
2) Bei den Altmexikanern kommt die Pflege der Cretinen ebenfalls vor
(Oviedo, Historia general lib. XXXIII, cap. 11, tom. III, p. 307), allein sie

Die christlichen Lehren.
ein lebendiges Gespenst. Die Liebe zu Eltern und Kindern oder
Geschwistern, die im Grunde nichts ist als eine erweiterte Selbst-
liebe, soll sich auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen1).

Innerhalb der menschlichen Gesellschaft erzwingt sich das
bürgerliche Recht von selbst seine Beachtung. Die Fortschritte
unseres Geschlechtes beruhen auf einer so durchgebildeten Glie-
derung von Arbeiten und Leistungen, dass sie nicht denkbar sind
ohne strenge Beobachtung der Rechte Anderer. Wo sich der
Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abstumpft, geht jede Gesell-
schaft zu Grunde und die Weltgeschichte wird für sie zum Welt-
gericht. So ist schon durch diese unerbittliche sittliche Ordnung
für die bürgerliche Erziehung unseres Geschlechts gesorgt. Das
Christenthum aber erstrebt noch höheres als eine Verfeinerung
des menschlichen Geselligkeitstriebes. Von dem Reisenden Kennan
wird uns das milde Herz der Korjäken gerühmt: nie sah er ein
Kind schlagen, nie hörte er ein hartes Wort gegen eine Frau
fallen, aber die Altersschwachen und die hoffnungslosen Kranken
werden durch Lanzenstiche mit anatomischer Meisterschaft, Vater
oder Mutter gewöhnlich vom Sohne, umgebracht, denn die harte
Nothwendigkeit des Hirtenlebens verstattet keine Belastung der
wandernden Gemeinde mit den Hinfälligen, und der gesellige
Instinct setzt das Wohl der Genossenschaft über das Erbarmen gegen
den Einzelnen. Erkennen wir, dass solche Satzungen unverträglich
sind mit Christenpflichten, so gestehen wir damit, dass unsere
Sittenlehre sich über und bisweilen gegen den Gesellschaftstrieb
erhebt. Dass wir für Geisteskranke sorgen, kann als eine egoistische
Vorsicht betrachtet werden, denn Niemand weiss voraus, ob er
nicht selbst von diesem Schutz der Gesellschaft Nutzen ziehen
möchte. Wir verpflegen aber auch menschliche Missbildungen,
wie die Cretinen und Microcephalen. Sicherlich wäre es für die
Gesellschaft viel erspriesslicher, solche Geschöpfe ihrem Schick-
sal preiszugeben und den Aufwand, den ihre Pflege erheischt,
lieber zu nutzbringenden Zwecken zu verwenden. Wenn wir es
dennoch nicht thun, so befriedigen wir ein Pflichtgefühl, das sich
nicht aus unserem socialen Instincte ableiten lässt2). Die Sklaverei

1) Matth. X, 37; Marc. III, 33.
2) Bei den Altmexikanern kommt die Pflege der Cretinen ebenfalls vor
(Oviedo, Historia general lib. XXXIII, cap. 11, tom. III, p. 307), allein sie
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[314/0332] Die christlichen Lehren. ein lebendiges Gespenst. Die Liebe zu Eltern und Kindern oder Geschwistern, die im Grunde nichts ist als eine erweiterte Selbst- liebe, soll sich auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen 1). Innerhalb der menschlichen Gesellschaft erzwingt sich das bürgerliche Recht von selbst seine Beachtung. Die Fortschritte unseres Geschlechtes beruhen auf einer so durchgebildeten Glie- derung von Arbeiten und Leistungen, dass sie nicht denkbar sind ohne strenge Beobachtung der Rechte Anderer. Wo sich der Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abstumpft, geht jede Gesell- schaft zu Grunde und die Weltgeschichte wird für sie zum Welt- gericht. So ist schon durch diese unerbittliche sittliche Ordnung für die bürgerliche Erziehung unseres Geschlechts gesorgt. Das Christenthum aber erstrebt noch höheres als eine Verfeinerung des menschlichen Geselligkeitstriebes. Von dem Reisenden Kennan wird uns das milde Herz der Korjäken gerühmt: nie sah er ein Kind schlagen, nie hörte er ein hartes Wort gegen eine Frau fallen, aber die Altersschwachen und die hoffnungslosen Kranken werden durch Lanzenstiche mit anatomischer Meisterschaft, Vater oder Mutter gewöhnlich vom Sohne, umgebracht, denn die harte Nothwendigkeit des Hirtenlebens verstattet keine Belastung der wandernden Gemeinde mit den Hinfälligen, und der gesellige Instinct setzt das Wohl der Genossenschaft über das Erbarmen gegen den Einzelnen. Erkennen wir, dass solche Satzungen unverträglich sind mit Christenpflichten, so gestehen wir damit, dass unsere Sittenlehre sich über und bisweilen gegen den Gesellschaftstrieb erhebt. Dass wir für Geisteskranke sorgen, kann als eine egoistische Vorsicht betrachtet werden, denn Niemand weiss voraus, ob er nicht selbst von diesem Schutz der Gesellschaft Nutzen ziehen möchte. Wir verpflegen aber auch menschliche Missbildungen, wie die Cretinen und Microcephalen. Sicherlich wäre es für die Gesellschaft viel erspriesslicher, solche Geschöpfe ihrem Schick- sal preiszugeben und den Aufwand, den ihre Pflege erheischt, lieber zu nutzbringenden Zwecken zu verwenden. Wenn wir es dennoch nicht thun, so befriedigen wir ein Pflichtgefühl, das sich nicht aus unserem socialen Instincte ableiten lässt 2). Die Sklaverei 1) Matth. X, 37; Marc. III, 33. 2) Bei den Altmexikanern kommt die Pflege der Cretinen ebenfalls vor (Oviedo, Historia general lib. XXXIII, cap. 11, tom. III, p. 307), allein sie

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/332>, abgerufen am 29.03.2024.