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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die christlichen Lehren.
als Paternoster in unverständlicher Sprache Jahrhunderte lang nicht
mehr gebetet, sondern nach Buddhistenart1) unter Abzählung der
Rosenkranzperlen hergesagt worden ist.

Der Schwerpunkt dieses Gebetes oder dieses Verkehres mit
sich selbst liegt in der sogenannten dritten Bitte, die alles, was
diesseits und jenseits über den Menschen verfügt werden möge,
als erwogen in gütiger Vorsehung, geduldig und dankbar uns
empfangen heisst. Selbst harte Schicksalsschläge können sich zu
innerem Gewinn verwandeln, da sie, abgesehen von den Fällen,
wo sie verhärten und erbittern, die Gemüther in diejenige Stim-
mung zur Milde und Vergebung setzen, in welcher sie den christ-
lichen Wahrheiten am zugänglichsten sind. Nicht für die gesunden
und starken, sondern für die gebrochenen Herzen war ja der
Trost der neuen Lehre bestimmt2). Die Selbsterziehung des sitt-
lichen Menschen aber sollte mit der Einsicht in die eignen Fehler
beginnen. Nachsicht gegen die Mitmenschen, Bekämpfen der
eigenen Härte und der Lieblosigkeit, sind die immer wiederholten
Vorschriften der Evangelien. Die Satzungen des alten Testamentes
wurden nicht umgestossen, sondern verschärft und verfeinert.
Nicht blos der Mord, sondern jede Gehässigkeit, nicht der Ehe-
bruch, sondern jedes sträfliche Begehren sollte unterdrückt werden.
Kein Verdienst sei darin zu suchen, Liebe mit Liebe zu vergelten,
denn das geschehe auch von den heidnischen Völkern, sondern
Gott ähnlich, der Gerechte und Ungerechte mit seinem Licht er-
quickt, Fluch mit Segen, Hass mit Wohlthaten, Kränkungen mit
Fürbitten zu vergelten, wurde als neue Pflichtenlehre den Christen
auferlegt3). Ueberall wird eine Ueberwindung der menschlichen
Natur gefordert, ein Anstreben des göttlichen Reiches und eine
Veredelung der irdischen Gesellschaft geboten. Dem Jüngling, der
seinen Vater noch bestatten möchte, ruft der Religionsstifter zu,
er solle die Todten den Todten begraben lassen4), gleichsam als
sei ein Jeder, dem nicht die eigene Verklärung über alles gehe,

1) Da der ähnlichen Erscheinung buddhistischer Gebetmühlen bereits ge-
dacht worden ist, so wollen wir noch hinzufügen, dass selbst bei den Alt-
eraniern gewisse Gebete in 100- und 1000facher Wiederholung vorgeschrieben
wurden. Duncker, Gesch. des Alterthums. Bd. 2. S. 334.
2) Luc. V, 31.
3) Matth. V, 44--46.
4) l. c. VIII, 22.

Die christlichen Lehren.
als Paternoster in unverständlicher Sprache Jahrhunderte lang nicht
mehr gebetet, sondern nach Buddhistenart1) unter Abzählung der
Rosenkranzperlen hergesagt worden ist.

Der Schwerpunkt dieses Gebetes oder dieses Verkehres mit
sich selbst liegt in der sogenannten dritten Bitte, die alles, was
diesseits und jenseits über den Menschen verfügt werden möge,
als erwogen in gütiger Vorsehung, geduldig und dankbar uns
empfangen heisst. Selbst harte Schicksalsschläge können sich zu
innerem Gewinn verwandeln, da sie, abgesehen von den Fällen,
wo sie verhärten und erbittern, die Gemüther in diejenige Stim-
mung zur Milde und Vergebung setzen, in welcher sie den christ-
lichen Wahrheiten am zugänglichsten sind. Nicht für die gesunden
und starken, sondern für die gebrochenen Herzen war ja der
Trost der neuen Lehre bestimmt2). Die Selbsterziehung des sitt-
lichen Menschen aber sollte mit der Einsicht in die eignen Fehler
beginnen. Nachsicht gegen die Mitmenschen, Bekämpfen der
eigenen Härte und der Lieblosigkeit, sind die immer wiederholten
Vorschriften der Evangelien. Die Satzungen des alten Testamentes
wurden nicht umgestossen, sondern verschärft und verfeinert.
Nicht blos der Mord, sondern jede Gehässigkeit, nicht der Ehe-
bruch, sondern jedes sträfliche Begehren sollte unterdrückt werden.
Kein Verdienst sei darin zu suchen, Liebe mit Liebe zu vergelten,
denn das geschehe auch von den heidnischen Völkern, sondern
Gott ähnlich, der Gerechte und Ungerechte mit seinem Licht er-
quickt, Fluch mit Segen, Hass mit Wohlthaten, Kränkungen mit
Fürbitten zu vergelten, wurde als neue Pflichtenlehre den Christen
auferlegt3). Ueberall wird eine Ueberwindung der menschlichen
Natur gefordert, ein Anstreben des göttlichen Reiches und eine
Veredelung der irdischen Gesellschaft geboten. Dem Jüngling, der
seinen Vater noch bestatten möchte, ruft der Religionsstifter zu,
er solle die Todten den Todten begraben lassen4), gleichsam als
sei ein Jeder, dem nicht die eigene Verklärung über alles gehe,

1) Da der ähnlichen Erscheinung buddhistischer Gebetmühlen bereits ge-
dacht worden ist, so wollen wir noch hinzufügen, dass selbst bei den Alt-
erâniern gewisse Gebete in 100- und 1000facher Wiederholung vorgeschrieben
wurden. Duncker, Gesch. des Alterthums. Bd. 2. S. 334.
2) Luc. V, 31.
3) Matth. V, 44—46.
4) l. c. VIII, 22.
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[313/0331] Die christlichen Lehren. als Paternoster in unverständlicher Sprache Jahrhunderte lang nicht mehr gebetet, sondern nach Buddhistenart 1) unter Abzählung der Rosenkranzperlen hergesagt worden ist. Der Schwerpunkt dieses Gebetes oder dieses Verkehres mit sich selbst liegt in der sogenannten dritten Bitte, die alles, was diesseits und jenseits über den Menschen verfügt werden möge, als erwogen in gütiger Vorsehung, geduldig und dankbar uns empfangen heisst. Selbst harte Schicksalsschläge können sich zu innerem Gewinn verwandeln, da sie, abgesehen von den Fällen, wo sie verhärten und erbittern, die Gemüther in diejenige Stim- mung zur Milde und Vergebung setzen, in welcher sie den christ- lichen Wahrheiten am zugänglichsten sind. Nicht für die gesunden und starken, sondern für die gebrochenen Herzen war ja der Trost der neuen Lehre bestimmt 2). Die Selbsterziehung des sitt- lichen Menschen aber sollte mit der Einsicht in die eignen Fehler beginnen. Nachsicht gegen die Mitmenschen, Bekämpfen der eigenen Härte und der Lieblosigkeit, sind die immer wiederholten Vorschriften der Evangelien. Die Satzungen des alten Testamentes wurden nicht umgestossen, sondern verschärft und verfeinert. Nicht blos der Mord, sondern jede Gehässigkeit, nicht der Ehe- bruch, sondern jedes sträfliche Begehren sollte unterdrückt werden. Kein Verdienst sei darin zu suchen, Liebe mit Liebe zu vergelten, denn das geschehe auch von den heidnischen Völkern, sondern Gott ähnlich, der Gerechte und Ungerechte mit seinem Licht er- quickt, Fluch mit Segen, Hass mit Wohlthaten, Kränkungen mit Fürbitten zu vergelten, wurde als neue Pflichtenlehre den Christen auferlegt 3). Ueberall wird eine Ueberwindung der menschlichen Natur gefordert, ein Anstreben des göttlichen Reiches und eine Veredelung der irdischen Gesellschaft geboten. Dem Jüngling, der seinen Vater noch bestatten möchte, ruft der Religionsstifter zu, er solle die Todten den Todten begraben lassen 4), gleichsam als sei ein Jeder, dem nicht die eigene Verklärung über alles gehe, 1) Da der ähnlichen Erscheinung buddhistischer Gebetmühlen bereits ge- dacht worden ist, so wollen wir noch hinzufügen, dass selbst bei den Alt- erâniern gewisse Gebete in 100- und 1000facher Wiederholung vorgeschrieben wurden. Duncker, Gesch. des Alterthums. Bd. 2. S. 334. 2) Luc. V, 31. 3) Matth. V, 44—46. 4) l. c. VIII, 22.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/331>, abgerufen am 16.04.2024.