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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die christlichen Lehren.
im Buche der Weisheit 1), wo das Erwarten eines Nirvana als
Lehre der Gottlosen verworfen wird, wegen seines apokryphen
Ursprungs nicht anerkennen, so haben wir andererseits die Lehre
von einer Präexistenz des Menschen vor der Geburt als Gottes-
gedanke bereits in dem Psalm 138 (139), den Ewald dem Zerubbabel
zuschreibt 2). In den Sprüchen 3) wird dieselbe Anschauung in
dichterischem Schwung und zugleich in erhabenen Bildern vorge-
tragen, die wie eine Vorahnung unserer heutigen kosmogonischen
Erkenntnisse klingen. Gott, heisst es dort, hat mich besessen
uranfänglich; vor seinen Schöpfungen von Ewigkeit war ich vor-
bereitet ehe die Erde entstand, ehe die Tiefen einsanken, ehe
die Wasser hervorquollen, vor dem Aufsteigen der Gebirge, vor
den Hügeln war ich schon geboren. Noch gab es weder Fest-
land, noch Ströme, noch stand der Erdkreis nicht in seinen
Angeln. Als er den Himmel wölbte und in gesetzmässigen Curven
die Tiefen faltete, als er den Aether in der Höhe festigte, die
Wasser der Brunnen löste, das Meer eingrenzte und dem Flüs-
sigen gebot, seine Ränder nicht zu übersteigen, da war ich bei
ihm und spielte vor seinen Augen.

Aus diesen Stellen gewahren wir, dass an einen wohl be-
rechneten Schöpferplan geglaubt wurde, innerhalb welchem auch
bereits an den Einzelnen gedacht worden war. Als Gottesgedanke
aber musste er auch dann in alle Ewigkeit fortleben. Sollen wir
aber nun in aller Kürze aussprechen, worin die Völkerkunde das
innere Wesen der christlichen Lehre von den religiösen Regungen
anderer Zeiten oder der Heidenwelt zu unterscheiden habe, so
muss zuerst betont werden, dass die Verkörperung der Natur-
kräfte in Gott, wie sie sich noch im alten Testament findet 4),
mit dem Satze beseitigt wird, dass Gott als etwas geistiges auf-
zufassen sei 5). Wohl legen die Evangelien dem Religionsstifter
noch immer eine anthropomorphosirende Sprache in den Mund,
insofern Gott als ein Vater bezeichnet wird, allein dies recht-

1) Es soll nach Ewald dem zweiten Jahrhundert v. Chr. angehören.
Israelit. Geschichte Bd. 3. S. 436.
2) Israelit. Geschichte Bd. 4. S. 163.
3) Proverb. VIII, 22--31.
4) Job. cap. 37 u. 38.
5) Joh. IV, 24. Pneuma o theos.

Die christlichen Lehren.
im Buche der Weisheit 1), wo das Erwarten eines Nirvâna als
Lehre der Gottlosen verworfen wird, wegen seines apokryphen
Ursprungs nicht anerkennen, so haben wir andererseits die Lehre
von einer Präexistenz des Menschen vor der Geburt als Gottes-
gedanke bereits in dem Psalm 138 (139), den Ewald dem Zerubbabel
zuschreibt 2). In den Sprüchen 3) wird dieselbe Anschauung in
dichterischem Schwung und zugleich in erhabenen Bildern vorge-
tragen, die wie eine Vorahnung unserer heutigen kosmogonischen
Erkenntnisse klingen. Gott, heisst es dort, hat mich besessen
uranfänglich; vor seinen Schöpfungen von Ewigkeit war ich vor-
bereitet ehe die Erde entstand, ehe die Tiefen einsanken, ehe
die Wasser hervorquollen, vor dem Aufsteigen der Gebirge, vor
den Hügeln war ich schon geboren. Noch gab es weder Fest-
land, noch Ströme, noch stand der Erdkreis nicht in seinen
Angeln. Als er den Himmel wölbte und in gesetzmässigen Curven
die Tiefen faltete, als er den Aether in der Höhe festigte, die
Wasser der Brunnen löste, das Meer eingrenzte und dem Flüs-
sigen gebot, seine Ränder nicht zu übersteigen, da war ich bei
ihm und spielte vor seinen Augen.

Aus diesen Stellen gewahren wir, dass an einen wohl be-
rechneten Schöpferplan geglaubt wurde, innerhalb welchem auch
bereits an den Einzelnen gedacht worden war. Als Gottesgedanke
aber musste er auch dann in alle Ewigkeit fortleben. Sollen wir
aber nun in aller Kürze aussprechen, worin die Völkerkunde das
innere Wesen der christlichen Lehre von den religiösen Regungen
anderer Zeiten oder der Heidenwelt zu unterscheiden habe, so
muss zuerst betont werden, dass die Verkörperung der Natur-
kräfte in Gott, wie sie sich noch im alten Testament findet 4),
mit dem Satze beseitigt wird, dass Gott als etwas geistiges auf-
zufassen sei 5). Wohl legen die Evangelien dem Religionsstifter
noch immer eine anthropomorphosirende Sprache in den Mund,
insofern Gott als ein Vater bezeichnet wird, allein dies recht-

1) Es soll nach Ewald dem zweiten Jahrhundert v. Chr. angehören.
Israelit. Geschichte Bd. 3. S. 436.
2) Israelit. Geschichte Bd. 4. S. 163.
3) Proverb. VIII, 22—31.
4) Job. cap. 37 u. 38.
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[310/0328] Die christlichen Lehren. im Buche der Weisheit 1), wo das Erwarten eines Nirvâna als Lehre der Gottlosen verworfen wird, wegen seines apokryphen Ursprungs nicht anerkennen, so haben wir andererseits die Lehre von einer Präexistenz des Menschen vor der Geburt als Gottes- gedanke bereits in dem Psalm 138 (139), den Ewald dem Zerubbabel zuschreibt 2). In den Sprüchen 3) wird dieselbe Anschauung in dichterischem Schwung und zugleich in erhabenen Bildern vorge- tragen, die wie eine Vorahnung unserer heutigen kosmogonischen Erkenntnisse klingen. Gott, heisst es dort, hat mich besessen uranfänglich; vor seinen Schöpfungen von Ewigkeit war ich vor- bereitet ehe die Erde entstand, ehe die Tiefen einsanken, ehe die Wasser hervorquollen, vor dem Aufsteigen der Gebirge, vor den Hügeln war ich schon geboren. Noch gab es weder Fest- land, noch Ströme, noch stand der Erdkreis nicht in seinen Angeln. Als er den Himmel wölbte und in gesetzmässigen Curven die Tiefen faltete, als er den Aether in der Höhe festigte, die Wasser der Brunnen löste, das Meer eingrenzte und dem Flüs- sigen gebot, seine Ränder nicht zu übersteigen, da war ich bei ihm und spielte vor seinen Augen. Aus diesen Stellen gewahren wir, dass an einen wohl be- rechneten Schöpferplan geglaubt wurde, innerhalb welchem auch bereits an den Einzelnen gedacht worden war. Als Gottesgedanke aber musste er auch dann in alle Ewigkeit fortleben. Sollen wir aber nun in aller Kürze aussprechen, worin die Völkerkunde das innere Wesen der christlichen Lehre von den religiösen Regungen anderer Zeiten oder der Heidenwelt zu unterscheiden habe, so muss zuerst betont werden, dass die Verkörperung der Natur- kräfte in Gott, wie sie sich noch im alten Testament findet 4), mit dem Satze beseitigt wird, dass Gott als etwas geistiges auf- zufassen sei 5). Wohl legen die Evangelien dem Religionsstifter noch immer eine anthropomorphosirende Sprache in den Mund, insofern Gott als ein Vater bezeichnet wird, allein dies recht- 1) Es soll nach Ewald dem zweiten Jahrhundert v. Chr. angehören. Israelit. Geschichte Bd. 3. S. 436. 2) Israelit. Geschichte Bd. 4. S. 163. 3) Proverb. VIII, 22—31. 4) Job. cap. 37 u. 38. 5) Joh. IV, 24. Πνεῦμα ὁ ϑεός.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/328>, abgerufen am 29.03.2024.