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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Schamanismus.
in protestantischen Ländern fromme Gemüther bei Lebensbedräng-
nissen eine Offenbarung sich erzwingen wollen, so pflegen sie das
Gesangbuch aufzuschlagen und im ersten Liede oder Verse, auf
welche ihr Blick fällt, eine Antwort von oben zu erwarten. Un-
bewusst haben sie mit dem Gott in ihrem Innern den Vertrag
geschlossen, dass er, auf diese gläubige Weise befragt, ihnen Rede
zu stehen schuldig sei.

Nichts wird leichter schamanistisch missbraucht als das Gebet,
denn es wird in dem Augenblicke zur Zauberformel, sobald man
seinen Worten irgendeine Wirkung auf den göttlichen Willen
zuschreibt. Ob irgendwo eine solche Verirrung um sich gegriffen
habe, lässt sich leicht daran erkennen, dass das Gebet möglichst
vervielfältigt wird, und in diesem Selbstbetrug sind die Buddhisten
so tief gesunken, dass sie ihre Gebetrollen ersannen, drehbare
Walzen, über welche ein Papier mit den aufgeschriebenen Gebeten
gerollt wird. Mit dieser Vorrichtung gedenkt man die Gottheit
zu überlisten, indem man ihr zumuthet, bei jeder Umdrehung der
Trommel die Gebete als gesprochen in Empfang zu nehmen.
Erfinderische Mongolen haben sogar die Gebetrollen durch Wind-
oder Wasserräder in Drehung versetzt und durch solche Mühlen-
werke sich Frömmigkeitsbelohnungen zu erwerben getrachtet.

Noch schlimmer droht den Menschen der Opferdienst zu
verwirren. Die reinsten Beweggründe, ein Ueberströmen des
Dankes, die Anerkennung eines Fehltrittes und der Wunsch nach
einer Sühne führt die Gläubigen vielleicht zu dem Altar. Unmerk-
lich, ja fast unausbleiblich schleicht aber eine andere Auffassung
des Opfers jener reinen nach. Die Gottheit erscheint sehr bald
als der beschenkte Theil und der Geber erwartet eine Gegen-
leistung für seine Wohlthaten 1). So erinnern homerische Helden,
wenn sie die Hilfe ihrer unsichtbaren Beschützer anrufen, an die
vielen saftigen Opfer, die sie ihnen dargebracht haben 2). Am
verderblichsten aber wirkt die Verirrung, wenn sich zu dem Opfer
noch symbolisches Gepränge gesellt. Nirgends hat ein solcher
Selbstbetrug verständige, ja scharfsinnige Denker so völlig über-

1) Mit Recht erinnert Tylor (Anfänge der Cultur, Bd. 2. S. 400) daran,
dass Opfer (sacrifice) im Englischen (und im Deutschen, dürfen wir hinzu-
setzen) einen selbstauferlegten Verlust bedeutet.
2) Ilias I, 37--42.

Der Schamanismus.
in protestantischen Ländern fromme Gemüther bei Lebensbedräng-
nissen eine Offenbarung sich erzwingen wollen, so pflegen sie das
Gesangbuch aufzuschlagen und im ersten Liede oder Verse, auf
welche ihr Blick fällt, eine Antwort von oben zu erwarten. Un-
bewusst haben sie mit dem Gott in ihrem Innern den Vertrag
geschlossen, dass er, auf diese gläubige Weise befragt, ihnen Rede
zu stehen schuldig sei.

Nichts wird leichter schamanistisch missbraucht als das Gebet,
denn es wird in dem Augenblicke zur Zauberformel, sobald man
seinen Worten irgendeine Wirkung auf den göttlichen Willen
zuschreibt. Ob irgendwo eine solche Verirrung um sich gegriffen
habe, lässt sich leicht daran erkennen, dass das Gebet möglichst
vervielfältigt wird, und in diesem Selbstbetrug sind die Buddhisten
so tief gesunken, dass sie ihre Gebetrollen ersannen, drehbare
Walzen, über welche ein Papier mit den aufgeschriebenen Gebeten
gerollt wird. Mit dieser Vorrichtung gedenkt man die Gottheit
zu überlisten, indem man ihr zumuthet, bei jeder Umdrehung der
Trommel die Gebete als gesprochen in Empfang zu nehmen.
Erfinderische Mongolen haben sogar die Gebetrollen durch Wind-
oder Wasserräder in Drehung versetzt und durch solche Mühlen-
werke sich Frömmigkeitsbelohnungen zu erwerben getrachtet.

Noch schlimmer droht den Menschen der Opferdienst zu
verwirren. Die reinsten Beweggründe, ein Ueberströmen des
Dankes, die Anerkennung eines Fehltrittes und der Wunsch nach
einer Sühne führt die Gläubigen vielleicht zu dem Altar. Unmerk-
lich, ja fast unausbleiblich schleicht aber eine andere Auffassung
des Opfers jener reinen nach. Die Gottheit erscheint sehr bald
als der beschenkte Theil und der Geber erwartet eine Gegen-
leistung für seine Wohlthaten 1). So erinnern homerische Helden,
wenn sie die Hilfe ihrer unsichtbaren Beschützer anrufen, an die
vielen saftigen Opfer, die sie ihnen dargebracht haben 2). Am
verderblichsten aber wirkt die Verirrung, wenn sich zu dem Opfer
noch symbolisches Gepränge gesellt. Nirgends hat ein solcher
Selbstbetrug verständige, ja scharfsinnige Denker so völlig über-

1) Mit Recht erinnert Tylor (Anfänge der Cultur, Bd. 2. S. 400) daran,
dass Opfer (sacrifice) im Englischen (und im Deutschen, dürfen wir hinzu-
setzen) einen selbstauferlegten Verlust bedeutet.
2) Ilias I, 37—42.
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[281/0299] Der Schamanismus. in protestantischen Ländern fromme Gemüther bei Lebensbedräng- nissen eine Offenbarung sich erzwingen wollen, so pflegen sie das Gesangbuch aufzuschlagen und im ersten Liede oder Verse, auf welche ihr Blick fällt, eine Antwort von oben zu erwarten. Un- bewusst haben sie mit dem Gott in ihrem Innern den Vertrag geschlossen, dass er, auf diese gläubige Weise befragt, ihnen Rede zu stehen schuldig sei. Nichts wird leichter schamanistisch missbraucht als das Gebet, denn es wird in dem Augenblicke zur Zauberformel, sobald man seinen Worten irgendeine Wirkung auf den göttlichen Willen zuschreibt. Ob irgendwo eine solche Verirrung um sich gegriffen habe, lässt sich leicht daran erkennen, dass das Gebet möglichst vervielfältigt wird, und in diesem Selbstbetrug sind die Buddhisten so tief gesunken, dass sie ihre Gebetrollen ersannen, drehbare Walzen, über welche ein Papier mit den aufgeschriebenen Gebeten gerollt wird. Mit dieser Vorrichtung gedenkt man die Gottheit zu überlisten, indem man ihr zumuthet, bei jeder Umdrehung der Trommel die Gebete als gesprochen in Empfang zu nehmen. Erfinderische Mongolen haben sogar die Gebetrollen durch Wind- oder Wasserräder in Drehung versetzt und durch solche Mühlen- werke sich Frömmigkeitsbelohnungen zu erwerben getrachtet. Noch schlimmer droht den Menschen der Opferdienst zu verwirren. Die reinsten Beweggründe, ein Ueberströmen des Dankes, die Anerkennung eines Fehltrittes und der Wunsch nach einer Sühne führt die Gläubigen vielleicht zu dem Altar. Unmerk- lich, ja fast unausbleiblich schleicht aber eine andere Auffassung des Opfers jener reinen nach. Die Gottheit erscheint sehr bald als der beschenkte Theil und der Geber erwartet eine Gegen- leistung für seine Wohlthaten 1). So erinnern homerische Helden, wenn sie die Hilfe ihrer unsichtbaren Beschützer anrufen, an die vielen saftigen Opfer, die sie ihnen dargebracht haben 2). Am verderblichsten aber wirkt die Verirrung, wenn sich zu dem Opfer noch symbolisches Gepränge gesellt. Nirgends hat ein solcher Selbstbetrug verständige, ja scharfsinnige Denker so völlig über- 1) Mit Recht erinnert Tylor (Anfänge der Cultur, Bd. 2. S. 400) daran, dass Opfer (sacrifice) im Englischen (und im Deutschen, dürfen wir hinzu- setzen) einen selbstauferlegten Verlust bedeutet. 2) Ilias I, 37—42.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/299>, abgerufen am 20.04.2024.