Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Schamanismus.
Glaube an die Wirksamkeit böser Künste ist um so schwerer zu
vertilgen, als hin und wieder Ueberführte geständig werden, Zauber
verübt zu haben. Dass solche Versuche wirklich stattfinden, darf
nicht bezweifelt werden, hat doch der Reisende Martius 1) in einer
brasilianischen Indianerhütte eine rachsüchtige Sclavin bei ihren
nächtlichen Beschwörungen auf frischer That ergriffen. Aus diesem
bösen Kreis ist nicht leicht der Ausweg zu erkennen, denn schlagen
auch oft genug die Wunderwerke der Schamanen fehl, so wird
dadurch in den Augen der Befangenen nicht etwa die Nichtigkeit
der angewendeten Mittel bewiesen, sondern es heisst vielmehr,
die Arzneien oder Beschwörungen seien zu schwach gewesen, um
die schlimmen Werke eines entfernten Schamanen zu brechen. Alle
Beobachter fremder Menschenstämme versichern uns überein-
stimmend, dass die Zauberärzte selbst zu den Betrogenen gehören
und fest an ihre Künste glauben 2). Die sibirischen Schamanen,
die nordamerikanischen Medicinmänner, die brasilianischen Piai,
die südafrikanischen Mganga, die australischen und papuanischen
Zauberer leben abseits von ihrer Horde, erziehen sich ihre Schüler
unter Fasten und Selbstpeinigungen und überliefern ihnen dann
erst die Schätze ihres Geheimwissens.

Der letzte, unter allen seinen verschiedenen Namen und Trachten
immer gleiche Grundgedanke des Schamanismus beruht auf dem
Irrthum, dass der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr
treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne. Beides geschieht
durch die Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und ge-
heimen Kraftsprüchen, die sich gut bewährt haben, insoferne
nämlich bei der Schwäche des menschlichen Urtheils eine einzige
günstige Erfahrung, die sich unverwüstlich dem Gedächtniss ein-
prägt, neun andere widersprechende Erfahrungen, die rasch ver-
gessen wurden, vollständig aufwiegt. Dieser Selbstbetrug in seiner
höchsten Verfeinerung vermag in die reinsten Gemüther sich ein-
zuschleichen. Er hängt sich an alles Symbolische und Rituelle
und ist überall thätig, wo von einer sinnbildlichen Handlung eine
bestimmte, nicht streng nothwendige Wirkung erwartet wird. Wenn

1) Ethnographie. Bd. 1. S. 4.
2) So Dobrizhoffer in Bezug auf die Abiponen (Geschichte der Abi-
poner, Bd. 2. S. 91) und Mariner (Tonga Islands, tom. I. p. 102) in Bezug
auf die polynesischen Bewohner der Freundschaftsgruppe.

Der Schamanismus.
Glaube an die Wirksamkeit böser Künste ist um so schwerer zu
vertilgen, als hin und wieder Ueberführte geständig werden, Zauber
verübt zu haben. Dass solche Versuche wirklich stattfinden, darf
nicht bezweifelt werden, hat doch der Reisende Martius 1) in einer
brasilianischen Indianerhütte eine rachsüchtige Sclavin bei ihren
nächtlichen Beschwörungen auf frischer That ergriffen. Aus diesem
bösen Kreis ist nicht leicht der Ausweg zu erkennen, denn schlagen
auch oft genug die Wunderwerke der Schamanen fehl, so wird
dadurch in den Augen der Befangenen nicht etwa die Nichtigkeit
der angewendeten Mittel bewiesen, sondern es heisst vielmehr,
die Arzneien oder Beschwörungen seien zu schwach gewesen, um
die schlimmen Werke eines entfernten Schamanen zu brechen. Alle
Beobachter fremder Menschenstämme versichern uns überein-
stimmend, dass die Zauberärzte selbst zu den Betrogenen gehören
und fest an ihre Künste glauben 2). Die sibirischen Schamanen,
die nordamerikanischen Medicinmänner, die brasilianischen Piaï,
die südafrikanischen Mganga, die australischen und papuanischen
Zauberer leben abseits von ihrer Horde, erziehen sich ihre Schüler
unter Fasten und Selbstpeinigungen und überliefern ihnen dann
erst die Schätze ihres Geheimwissens.

Der letzte, unter allen seinen verschiedenen Namen und Trachten
immer gleiche Grundgedanke des Schamanismus beruht auf dem
Irrthum, dass der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr
treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne. Beides geschieht
durch die Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und ge-
heimen Kraftsprüchen, die sich gut bewährt haben, insoferne
nämlich bei der Schwäche des menschlichen Urtheils eine einzige
günstige Erfahrung, die sich unverwüstlich dem Gedächtniss ein-
prägt, neun andere widersprechende Erfahrungen, die rasch ver-
gessen wurden, vollständig aufwiegt. Dieser Selbstbetrug in seiner
höchsten Verfeinerung vermag in die reinsten Gemüther sich ein-
zuschleichen. Er hängt sich an alles Symbolische und Rituelle
und ist überall thätig, wo von einer sinnbildlichen Handlung eine
bestimmte, nicht streng nothwendige Wirkung erwartet wird. Wenn

1) Ethnographie. Bd. 1. S. 4.
2) So Dobrizhoffer in Bezug auf die Abiponen (Geschichte der Abi-
poner, Bd. 2. S. 91) und Mariner (Tonga Islands, tom. I. p. 102) in Bezug
auf die polynesischen Bewohner der Freundschaftsgruppe.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0298" n="280"/><fw place="top" type="header">Der Schamanismus.</fw><lb/>
Glaube an die Wirksamkeit böser Künste ist um so schwerer zu<lb/>
vertilgen, als hin und wieder Ueberführte geständig werden, Zauber<lb/>
verübt zu haben. Dass solche Versuche wirklich stattfinden, darf<lb/>
nicht bezweifelt werden, hat doch der Reisende Martius <note place="foot" n="1)">Ethnographie. Bd. 1. S. 4.</note> in einer<lb/>
brasilianischen Indianerhütte eine rachsüchtige Sclavin bei ihren<lb/>
nächtlichen Beschwörungen auf frischer That ergriffen. Aus diesem<lb/>
bösen Kreis ist nicht leicht der Ausweg zu erkennen, denn schlagen<lb/>
auch oft genug die Wunderwerke der Schamanen fehl, so wird<lb/>
dadurch in den Augen der Befangenen nicht etwa die Nichtigkeit<lb/>
der angewendeten Mittel bewiesen, sondern es heisst vielmehr,<lb/>
die Arzneien oder Beschwörungen seien zu schwach gewesen, um<lb/>
die schlimmen Werke eines entfernten Schamanen zu brechen. Alle<lb/>
Beobachter fremder Menschenstämme versichern uns überein-<lb/>
stimmend, dass die Zauberärzte selbst zu den Betrogenen gehören<lb/>
und fest an ihre Künste glauben <note place="foot" n="2)">So <hi rendition="#g">Dobrizhoffer</hi> in Bezug auf die Abiponen (Geschichte der Abi-<lb/>
poner, Bd. 2. S. 91) und <hi rendition="#g">Mariner</hi> (Tonga Islands, tom. I. p. 102) in Bezug<lb/>
auf die polynesischen Bewohner der Freundschaftsgruppe.</note>. Die sibirischen Schamanen,<lb/>
die nordamerikanischen Medicinmänner, die brasilianischen Piaï,<lb/>
die südafrikanischen Mganga, die australischen und papuanischen<lb/>
Zauberer leben abseits von ihrer Horde, erziehen sich ihre Schüler<lb/>
unter Fasten und Selbstpeinigungen und überliefern ihnen dann<lb/>
erst die Schätze ihres Geheimwissens.</p><lb/>
          <p>Der letzte, unter allen seinen verschiedenen Namen und Trachten<lb/>
immer gleiche Grundgedanke des Schamanismus beruht auf dem<lb/>
Irrthum, dass der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr<lb/>
treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne. Beides geschieht<lb/>
durch die Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und ge-<lb/>
heimen Kraftsprüchen, die sich gut bewährt haben, insoferne<lb/>
nämlich bei der Schwäche des menschlichen Urtheils eine einzige<lb/>
günstige Erfahrung, die sich unverwüstlich dem Gedächtniss ein-<lb/>
prägt, neun andere widersprechende Erfahrungen, die rasch ver-<lb/>
gessen wurden, vollständig aufwiegt. Dieser Selbstbetrug in seiner<lb/>
höchsten Verfeinerung vermag in die reinsten Gemüther sich ein-<lb/>
zuschleichen. Er hängt sich an alles Symbolische und Rituelle<lb/>
und ist überall thätig, wo von einer sinnbildlichen Handlung eine<lb/>
bestimmte, nicht streng nothwendige Wirkung erwartet wird. Wenn<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0298] Der Schamanismus. Glaube an die Wirksamkeit böser Künste ist um so schwerer zu vertilgen, als hin und wieder Ueberführte geständig werden, Zauber verübt zu haben. Dass solche Versuche wirklich stattfinden, darf nicht bezweifelt werden, hat doch der Reisende Martius 1) in einer brasilianischen Indianerhütte eine rachsüchtige Sclavin bei ihren nächtlichen Beschwörungen auf frischer That ergriffen. Aus diesem bösen Kreis ist nicht leicht der Ausweg zu erkennen, denn schlagen auch oft genug die Wunderwerke der Schamanen fehl, so wird dadurch in den Augen der Befangenen nicht etwa die Nichtigkeit der angewendeten Mittel bewiesen, sondern es heisst vielmehr, die Arzneien oder Beschwörungen seien zu schwach gewesen, um die schlimmen Werke eines entfernten Schamanen zu brechen. Alle Beobachter fremder Menschenstämme versichern uns überein- stimmend, dass die Zauberärzte selbst zu den Betrogenen gehören und fest an ihre Künste glauben 2). Die sibirischen Schamanen, die nordamerikanischen Medicinmänner, die brasilianischen Piaï, die südafrikanischen Mganga, die australischen und papuanischen Zauberer leben abseits von ihrer Horde, erziehen sich ihre Schüler unter Fasten und Selbstpeinigungen und überliefern ihnen dann erst die Schätze ihres Geheimwissens. Der letzte, unter allen seinen verschiedenen Namen und Trachten immer gleiche Grundgedanke des Schamanismus beruht auf dem Irrthum, dass der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne. Beides geschieht durch die Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und ge- heimen Kraftsprüchen, die sich gut bewährt haben, insoferne nämlich bei der Schwäche des menschlichen Urtheils eine einzige günstige Erfahrung, die sich unverwüstlich dem Gedächtniss ein- prägt, neun andere widersprechende Erfahrungen, die rasch ver- gessen wurden, vollständig aufwiegt. Dieser Selbstbetrug in seiner höchsten Verfeinerung vermag in die reinsten Gemüther sich ein- zuschleichen. Er hängt sich an alles Symbolische und Rituelle und ist überall thätig, wo von einer sinnbildlichen Handlung eine bestimmte, nicht streng nothwendige Wirkung erwartet wird. Wenn 1) Ethnographie. Bd. 1. S. 4. 2) So Dobrizhoffer in Bezug auf die Abiponen (Geschichte der Abi- poner, Bd. 2. S. 91) und Mariner (Tonga Islands, tom. I. p. 102) in Bezug auf die polynesischen Bewohner der Freundschaftsgruppe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/298
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/298>, abgerufen am 24.04.2024.