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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Schamanismus.
jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu-
rufen 1).

Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu-
geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters-
schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste
herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be-
troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein
Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis
in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins
verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines
Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos
Menschenstämme, die wie die Australier 2) freilich mit Unrecht sehr
tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen
versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer 3), dass die Todesfälle auf-
hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste
verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute-
nant Musters 4), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein
Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu-
schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata-
goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen
Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen-
schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord-
Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die
Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den
Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen
und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs-
weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver-
mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten.
Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber
bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die
nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver-
brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer
Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte

1) Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be-
schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix,
Nouv. France tom. III. p. 426.
2) Eyre, Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.
3) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106.
4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.

Der Schamanismus.
jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu-
rufen 1).

Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu-
geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters-
schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste
herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be-
troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein
Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis
in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins
verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines
Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos
Menschenstämme, die wie die Australier 2) freilich mit Unrecht sehr
tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen
versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer 3), dass die Todesfälle auf-
hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste
verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute-
nant Musters 4), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein
Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu-
schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata-
goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen
Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen-
schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord-
Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die
Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den
Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen
und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs-
weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver-
mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten.
Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber
bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die
nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver-
brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer
Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte

1) Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be-
schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix,
Nouv. France tom. III. p. 426.
2) Eyre, Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.
3) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106.
4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.
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[276/0294] Der Schamanismus. jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu- rufen 1). Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu- geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters- schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be- troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos Menschenstämme, die wie die Australier 2) freilich mit Unrecht sehr tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer 3), dass die Todesfälle auf- hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute- nant Musters 4), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu- schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata- goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen- schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord- Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs- weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver- mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten. Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver- brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte 1) Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be- schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix, Nouv. France tom. III. p. 426. 2) Eyre, Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219. 3) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106. 4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/294>, abgerufen am 28.03.2024.