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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Lateinischen gab es für Gott und Himmel1) dasselbe Wort, und
dass uns Deutschen in der Vorzeit der Himmel und die höchste
Gottheit zusammenfielen, daran mahnen uns noch jetzt die arglos
heidnischen Redensarten: der Himmel behüte dich, oder: der
Himmel erhalte dir dieses Kind. Dass bei einer Vielheit der
Götter eine Rangordnung Bedürfniss wird und dieses Ordnen un-
willkürlich für monotheistische Anschauungen empfänglich stimmt,
bemerken wir selbst im alten Mexico. In den berühmt gewordenen
Ermahnungen einer aztekischen Mutter an ihre Tochter wird auf
einen Gott verwiesen, "der auch im Verborgenen jeden Fehltritt
sieht"2). Sahagun, der uns dieses sittengeschichtlich so merk-
würdige Stück erhalten hat, ist zwar verdächtigt worden, christ-
liche Anschauungen in das altmexicanische Heidenthum hinein-
geschwärzt zu haben, allein Waitz hat mit Recht die Glaubwürdig-
keit der Aufzeichnung vertreten, weil spanische Geistliche weit eher
bestrebt waren, die vorchristlichen Zustände der Amerikaner wie
Teufelswerke gehässig darzustellen als sie zu idealisiren.

Wird der Werth einer Religion einzig nach ihren Leistungen
als Erziehungsmittel abgeschätzt, so kann auch der Dienst der
Naturkräfte die menschliche Gesellschaft auf höhere Stufen heben.
Bei sittenstrengen Völkern finden wir auch eine sittenstrenge Götter-
welt und die Vorstellung einer gerechten Weltordnung, während
im andern Falle Lockerheit und Laster aus den Religions-
schöpfungen durchblicken, welche letztere sich stets zum sitt-
lichen Werthe der gesellschaftlichen Zustände verhalten, wie ein
spectroskopisches Farbenbild mit dunklen Streifungen zu seinem
Lichtquell. Die polynesischen Tonganer oder Freundschaftsinsulaner
glauben fest daran, dass ihre Götter einen Tugendwandel billigen
und über Laster zürnen, so wie dass die Schutzgeister nur so
lange über die Menschen wachen, als sie sich ehrbar betragen,
verworfene aber alsbald verlassen3). Zur gesellschaftlichen Er-
ziehung der Völker wird aber eine Verehrung der Naturkräfte auf
die Dauer nur sehr Weniges leisten. Hat einmal das göttlich Ge-
dachte menschliche Züge in der Vorstellung gewonnen, so setzen

1) sub divo oder sub dio hiess soviel wie unter freiem Himmel.
2) Sahagun bei Prescott, Conquest of Mexico, tom. III. p. 424.
3) Mariner, Tonga Islands, tom. II. p. 110.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Lateinischen gab es für Gott und Himmel1) dasselbe Wort, und
dass uns Deutschen in der Vorzeit der Himmel und die höchste
Gottheit zusammenfielen, daran mahnen uns noch jetzt die arglos
heidnischen Redensarten: der Himmel behüte dich, oder: der
Himmel erhalte dir dieses Kind. Dass bei einer Vielheit der
Götter eine Rangordnung Bedürfniss wird und dieses Ordnen un-
willkürlich für monotheistische Anschauungen empfänglich stimmt,
bemerken wir selbst im alten Mexico. In den berühmt gewordenen
Ermahnungen einer aztekischen Mutter an ihre Tochter wird auf
einen Gott verwiesen, „der auch im Verborgenen jeden Fehltritt
sieht“2). Sahagun, der uns dieses sittengeschichtlich so merk-
würdige Stück erhalten hat, ist zwar verdächtigt worden, christ-
liche Anschauungen in das altmexicanische Heidenthum hinein-
geschwärzt zu haben, allein Waitz hat mit Recht die Glaubwürdig-
keit der Aufzeichnung vertreten, weil spanische Geistliche weit eher
bestrebt waren, die vorchristlichen Zustände der Amerikaner wie
Teufelswerke gehässig darzustellen als sie zu idealisiren.

Wird der Werth einer Religion einzig nach ihren Leistungen
als Erziehungsmittel abgeschätzt, so kann auch der Dienst der
Naturkräfte die menschliche Gesellschaft auf höhere Stufen heben.
Bei sittenstrengen Völkern finden wir auch eine sittenstrenge Götter-
welt und die Vorstellung einer gerechten Weltordnung, während
im andern Falle Lockerheit und Laster aus den Religions-
schöpfungen durchblicken, welche letztere sich stets zum sitt-
lichen Werthe der gesellschaftlichen Zustände verhalten, wie ein
spectroskopisches Farbenbild mit dunklen Streifungen zu seinem
Lichtquell. Die polynesischen Tonganer oder Freundschaftsinsulaner
glauben fest daran, dass ihre Götter einen Tugendwandel billigen
und über Laster zürnen, so wie dass die Schutzgeister nur so
lange über die Menschen wachen, als sie sich ehrbar betragen,
verworfene aber alsbald verlassen3). Zur gesellschaftlichen Er-
ziehung der Völker wird aber eine Verehrung der Naturkräfte auf
die Dauer nur sehr Weniges leisten. Hat einmal das göttlich Ge-
dachte menschliche Züge in der Vorstellung gewonnen, so setzen

1) sub divo oder sub dio hiess soviel wie unter freiem Himmel.
2) Sahagun bei Prescott, Conquest of Mexico, tom. III. p. 424.
3) Mariner, Tonga Islands, tom. II. p. 110.
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[269/0287] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Lateinischen gab es für Gott und Himmel 1) dasselbe Wort, und dass uns Deutschen in der Vorzeit der Himmel und die höchste Gottheit zusammenfielen, daran mahnen uns noch jetzt die arglos heidnischen Redensarten: der Himmel behüte dich, oder: der Himmel erhalte dir dieses Kind. Dass bei einer Vielheit der Götter eine Rangordnung Bedürfniss wird und dieses Ordnen un- willkürlich für monotheistische Anschauungen empfänglich stimmt, bemerken wir selbst im alten Mexico. In den berühmt gewordenen Ermahnungen einer aztekischen Mutter an ihre Tochter wird auf einen Gott verwiesen, „der auch im Verborgenen jeden Fehltritt sieht“ 2). Sahagun, der uns dieses sittengeschichtlich so merk- würdige Stück erhalten hat, ist zwar verdächtigt worden, christ- liche Anschauungen in das altmexicanische Heidenthum hinein- geschwärzt zu haben, allein Waitz hat mit Recht die Glaubwürdig- keit der Aufzeichnung vertreten, weil spanische Geistliche weit eher bestrebt waren, die vorchristlichen Zustände der Amerikaner wie Teufelswerke gehässig darzustellen als sie zu idealisiren. Wird der Werth einer Religion einzig nach ihren Leistungen als Erziehungsmittel abgeschätzt, so kann auch der Dienst der Naturkräfte die menschliche Gesellschaft auf höhere Stufen heben. Bei sittenstrengen Völkern finden wir auch eine sittenstrenge Götter- welt und die Vorstellung einer gerechten Weltordnung, während im andern Falle Lockerheit und Laster aus den Religions- schöpfungen durchblicken, welche letztere sich stets zum sitt- lichen Werthe der gesellschaftlichen Zustände verhalten, wie ein spectroskopisches Farbenbild mit dunklen Streifungen zu seinem Lichtquell. Die polynesischen Tonganer oder Freundschaftsinsulaner glauben fest daran, dass ihre Götter einen Tugendwandel billigen und über Laster zürnen, so wie dass die Schutzgeister nur so lange über die Menschen wachen, als sie sich ehrbar betragen, verworfene aber alsbald verlassen 3). Zur gesellschaftlichen Er- ziehung der Völker wird aber eine Verehrung der Naturkräfte auf die Dauer nur sehr Weniges leisten. Hat einmal das göttlich Ge- dachte menschliche Züge in der Vorstellung gewonnen, so setzen 1) sub divo oder sub dio hiess soviel wie unter freiem Himmel. 2) Sahagun bei Prescott, Conquest of Mexico, tom. III. p. 424. 3) Mariner, Tonga Islands, tom. II. p. 110.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/287>, abgerufen am 24.04.2024.