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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Scheibe uns befleckt erscheint1). Die Eskimo wiederum lassen die
Sonne, die sie als weiblich denken, dem Monde, ihrem Bruder,
das Gesicht mit Russ beschmutzen, als er sie mit seiner Liebe be-
drängt. Aehnlich behaupteten die Bewohner der Landenge von
Darien, der sogenannte "Mann im Monde" habe Blutschande an
seiner Schwester verübt2).

Die Thätigkeit der Mythenbildung musste mit der Zeit, na-
mentlich solange die Schrift noch nicht im Gebrauch war, den
ursprünglichen Kern eines Naturdienstes völlig verdunkeln, so dass
es schliesslich nöthig wurde, die nämliche Kraft unter einem an-
deren Namen zur Göttlichkeit zu erheben, um sie abermals in
menschenähnliche Gestalt einzukleiden. Daher kommt es wohl,
dass bei den arischen Völkern so viele Gottheiten für das näm-
liche Rollenfach vorhanden sind und namentlich die Thätigkeiten
des Luftkreises so vielfältig vertreten erscheinen. Alle diese Götter-
kreise aber verrathen ein Streben nach einem höchsten Wesen,
dem sich die anderen Mächte früher oder später unterordnen
müssen. Es ist beispielsweise nicht möglich, dass ein geistig sich
entwickelndes Volk beim Dienste der Sonne verharren könne, weil
früher oder später ein Zweifel sich regen muss, den der Inca von
Peru Huayna Capac (+ 1525 n. Chr.) ausgesprochen hat3), dass
nämlich das Tagesgestirn unmöglich der Schöpfer aller Dinge sein
könne, weil ja während der Nachtzeit die Entwicklung des Leben-
digen ohne Unterbrechung fortschreite. An diesem Falle bewährt
sich auch wieder unser Satz, dass alle religiösen Regungen nur
aus dem Drange nach Erkenntniss eines Urhebers hervorgehen,
und dass jede Verehrung einer Gottheit in dem Augenblicke er-
lischt, wo sie das Causalitätsbedürfniss nicht mehr befriedigt. Besser
und länger als bei der Sonne gelang es, an der Göttlichkeit des
lückenlosen, beständig sich selbstbewegenden Himmels festzuhalten.
Er wurde immer als männlich gedacht im Gegensatz zu der weib-
lichen fruchttragenden Erde. Himmel und Erde verehrten die
Huronen, verehren noch jetzt die Chinesen, und Himmelsverehrung
kommt auch bei Negern an der Westküste Afrikas vor4). Im

1) Dalton Hooker, Himalayan Journals. London 1854. vol. II, p. 276.
2) David Cranz, Historie von Grönland. Bd. 1. S. 295; Petrus
Martyr
, de Orbe novo. Dec. VII, cap. 10.
3) A. v. Humboldt, Ansichten der Natur. 3. Aufl. Bd. 2. S. 385.
4) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 322--323, Bd. 2. S. 256, S. 258--259.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Scheibe uns befleckt erscheint1). Die Eskimo wiederum lassen die
Sonne, die sie als weiblich denken, dem Monde, ihrem Bruder,
das Gesicht mit Russ beschmutzen, als er sie mit seiner Liebe be-
drängt. Aehnlich behaupteten die Bewohner der Landenge von
Darien, der sogenannte „Mann im Monde“ habe Blutschande an
seiner Schwester verübt2).

Die Thätigkeit der Mythenbildung musste mit der Zeit, na-
mentlich solange die Schrift noch nicht im Gebrauch war, den
ursprünglichen Kern eines Naturdienstes völlig verdunkeln, so dass
es schliesslich nöthig wurde, die nämliche Kraft unter einem an-
deren Namen zur Göttlichkeit zu erheben, um sie abermals in
menschenähnliche Gestalt einzukleiden. Daher kommt es wohl,
dass bei den arischen Völkern so viele Gottheiten für das näm-
liche Rollenfach vorhanden sind und namentlich die Thätigkeiten
des Luftkreises so vielfältig vertreten erscheinen. Alle diese Götter-
kreise aber verrathen ein Streben nach einem höchsten Wesen,
dem sich die anderen Mächte früher oder später unterordnen
müssen. Es ist beispielsweise nicht möglich, dass ein geistig sich
entwickelndes Volk beim Dienste der Sonne verharren könne, weil
früher oder später ein Zweifel sich regen muss, den der Inca von
Peru Huayna Capac († 1525 n. Chr.) ausgesprochen hat3), dass
nämlich das Tagesgestirn unmöglich der Schöpfer aller Dinge sein
könne, weil ja während der Nachtzeit die Entwicklung des Leben-
digen ohne Unterbrechung fortschreite. An diesem Falle bewährt
sich auch wieder unser Satz, dass alle religiösen Regungen nur
aus dem Drange nach Erkenntniss eines Urhebers hervorgehen,
und dass jede Verehrung einer Gottheit in dem Augenblicke er-
lischt, wo sie das Causalitätsbedürfniss nicht mehr befriedigt. Besser
und länger als bei der Sonne gelang es, an der Göttlichkeit des
lückenlosen, beständig sich selbstbewegenden Himmels festzuhalten.
Er wurde immer als männlich gedacht im Gegensatz zu der weib-
lichen fruchttragenden Erde. Himmel und Erde verehrten die
Huronen, verehren noch jetzt die Chinesen, und Himmelsverehrung
kommt auch bei Negern an der Westküste Afrikas vor4). Im

1) Dalton Hooker, Himalayan Journals. London 1854. vol. II, p. 276.
2) David Cranz, Historie von Grönland. Bd. 1. S. 295; Petrus
Martyr
, de Orbe novo. Dec. VII, cap. 10.
3) A. v. Humboldt, Ansichten der Natur. 3. Aufl. Bd. 2. S. 385.
4) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 322—323, Bd. 2. S. 256, S. 258—259.
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[268/0286] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Scheibe uns befleckt erscheint 1). Die Eskimo wiederum lassen die Sonne, die sie als weiblich denken, dem Monde, ihrem Bruder, das Gesicht mit Russ beschmutzen, als er sie mit seiner Liebe be- drängt. Aehnlich behaupteten die Bewohner der Landenge von Darien, der sogenannte „Mann im Monde“ habe Blutschande an seiner Schwester verübt 2). Die Thätigkeit der Mythenbildung musste mit der Zeit, na- mentlich solange die Schrift noch nicht im Gebrauch war, den ursprünglichen Kern eines Naturdienstes völlig verdunkeln, so dass es schliesslich nöthig wurde, die nämliche Kraft unter einem an- deren Namen zur Göttlichkeit zu erheben, um sie abermals in menschenähnliche Gestalt einzukleiden. Daher kommt es wohl, dass bei den arischen Völkern so viele Gottheiten für das näm- liche Rollenfach vorhanden sind und namentlich die Thätigkeiten des Luftkreises so vielfältig vertreten erscheinen. Alle diese Götter- kreise aber verrathen ein Streben nach einem höchsten Wesen, dem sich die anderen Mächte früher oder später unterordnen müssen. Es ist beispielsweise nicht möglich, dass ein geistig sich entwickelndes Volk beim Dienste der Sonne verharren könne, weil früher oder später ein Zweifel sich regen muss, den der Inca von Peru Huayna Capac († 1525 n. Chr.) ausgesprochen hat 3), dass nämlich das Tagesgestirn unmöglich der Schöpfer aller Dinge sein könne, weil ja während der Nachtzeit die Entwicklung des Leben- digen ohne Unterbrechung fortschreite. An diesem Falle bewährt sich auch wieder unser Satz, dass alle religiösen Regungen nur aus dem Drange nach Erkenntniss eines Urhebers hervorgehen, und dass jede Verehrung einer Gottheit in dem Augenblicke er- lischt, wo sie das Causalitätsbedürfniss nicht mehr befriedigt. Besser und länger als bei der Sonne gelang es, an der Göttlichkeit des lückenlosen, beständig sich selbstbewegenden Himmels festzuhalten. Er wurde immer als männlich gedacht im Gegensatz zu der weib- lichen fruchttragenden Erde. Himmel und Erde verehrten die Huronen, verehren noch jetzt die Chinesen, und Himmelsverehrung kommt auch bei Negern an der Westküste Afrikas vor 4). Im 1) Dalton Hooker, Himalayan Journals. London 1854. vol. II, p. 276. 2) David Cranz, Historie von Grönland. Bd. 1. S. 295; Petrus Martyr, de Orbe novo. Dec. VII, cap. 10. 3) A. v. Humboldt, Ansichten der Natur. 3. Aufl. Bd. 2. S. 385. 4) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 322—323, Bd. 2. S. 256, S. 258—259.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/286>, abgerufen am 19.04.2024.